Anfang Dezember 2015 – der Name des flüchtigen Terror- Verdächtigen Salah Abdeslam taucht täglich in den Nachrichten auf. Sein blasses Gesicht auf dem Fahndungsfoto wirkt wie ein Geist, der das Land auf Titelseiten und Plakaten verfolgt. Abdeslam (26) gilt als „meistgesuchter Mann Europas“. Nicht unbedingt weil er in den IS- Netzwerken eine überragende Rolle spielt, doch könnte er als einzig überlebender Täter der Anschläge von Paris Informationen über deren Hintergründe liefern. Vermutet wird Abdeslam zu dieser Zeit in Syrien.
Warum dann die Polizei von Mechelen einen Hinweis auf einen Aufenthaltsort in Belgien als „nicht vertrauenswürdig“ einstuft, bleibt ein Rätsel. Tatsache ist, dass sie den Wink e
den Wink erst Wochen später auf Order der Staatsanwaltschaft an eine nationale Datenbank durchgibt. Dort wiederum, schreibt die Tageszeitung Het Laatste Nieuws, „vergaß“ ein Inspektor, den entsprechenden Bericht weiterzuschicken. Ein Vierteljahr später wird Abdeslam in Sint- Jans-Molenbeek unter exakt dieser Adresse festgenommen.Zwei ZellenDer belgische Dschihad-Experte Pieter Stockmans spricht angesichts des auf Expansion bedachten Terrors von einer „Bedrohung, die größer ist als je zuvor in unserer Geschichte“. Die Episode um den ignorierten heißen Tipp erscheint eher wie eine Provinzposse, bei der zwei vertrottelte Dorfpolizisten auch nicht den geringsten Zweifel an ihrem Unvermögen aufkommen lassen wollen. Fraglos kommt derzeit das europaweite „Belgium Bashing“ reichlich undifferenziert und selbstherrlich daher, dennoch fragt man sich: Sind das noch Fehler oder ist das schon Slapstick?Es gibt andere haarsträubende Details, die den Anschlägen von Zaventem und Maelbeek vorausgingen. Ibrahim El Bakraoui, einer der Flughafen-Selbstmordattentäter, wurde 2014 entgegen einer Empfehlung der zuständigen Gefängnisdirektion nach der Hälfte seiner Strafe aus belgischer Haft entlassen, um vergangenen Sommer an der türkisch-syrischen Grenze festgenommen zu werden. Die türkischen Behörden informierten die belgischen Partner, unter anderem die polizeiliche Terrorismus-Recherche. Da jedoch eine Reaktion aus Brüssel ausblieb, wurde El Bakraoui auf dessen Ersuchen hin in die Niederlande abgeschoben, wo er vom Radar verschwand.Die Ermittlungspannen und Behördenfehler, wie sie nach den Anschlägen von 22. März gehäuft offenbar werden, überlagern die anhaltenden Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Die gingen auch am Osterwochenende weiter, unter anderem in Brüssel, Kortrijk und Mechelen. Mehrere Terror-Verdächtige sind nun in Haft, acht werden noch gesucht. Dass eine Verbindung zwischen zwei islamistischen Zellen existiert hat, dafür gibt es inzwischen ausreichend Belege, vor allem durch den Kontakt zwischen Salah Abdeslam und Najim Laachraoui, einem der Flughafen-Attentäter von Brüssel.Der mutmaßliche Journalist Fayçal Cheffou, seit dem 24. März in Haft, wurde Ostermontag wieder freigelassen. „Die Hinweise, die zu seiner Festnahme führten, konnten nicht bestätigt werden“, so die Staatsanwaltschaft. Zuvor hieß es, Cheffou sei möglicherweise der flüchtige „Mann mit Hut“, den die Videoüberwachung des Airports kurz vor Detonation der Bomben erfasst hatte. Cheffou soll im Herbst in einem Brüsseler Flüchtlingscamp Syrienkämpfer rekrutiert haben.Kein Wunder, wenn der Druck auf die belgischen Behörden steigt. Kurz vor den Anschlägen war eine Untersuchung bekannt geworden, wonach die föderale Terrorismus-Sektion der Polizei mit der Verarbeitung der ihr zugehenden Informationen überfordert ist. Dadurch wiederum – so der entsprechende Bericht – könne sie nicht ausreichend aufbereitetes Material an die Anti-Terror-Behörde OCAD weiterreichen, die darüber zu befinden habe, welche der vier Bedrohungsstufen auszurufen sei. Die OCAD ist auch für Analysen über Dschihadisten und Syrien-Heimkehrer zuständig. Freilich sollen die Befunde nicht einmal auf eine einheitliche Methodik zurückgehen, so dass Gefahrenanalysen mit Vorsicht zu genießen sind.Noch steht eine Parlamentsdebatte über den 22. März und die Folgen aus. Sie verspricht hitzig zu werden, nimmt man die Reaktionen auf den Terror als Vorspiel. Sowohl Innenminister Jan Jambon von der nationalistischen Nieuw-Vlaamse Alliantie (N-VA) als auch der christdemokratische Justizminister Koen Geens boten wegen der vielen Ermittlungspannen ihren Rücktritt an, den der liberale Premier Charles Michel vorerst abgelehnt hat. Daran ist besonders bemerkenswert, dass es gerade Jambon war, der nach den Pariser Anschlägen der internationalen Kritik an Belgien mit der Ankündigung begegnete, er werde „Molenbeek aufräumen“.Die flämischen Nationalisten sehen das belgische Dschihadisten-Problem als Folge einer desinteressierten, klientelistischen Laisser-Faire-Politik des Parti Socialiste (PS), der in Molenbeek lange regiert habe. Zudem stören sie sich an den komplexen Strukturen Brüssels mit seinen 19 Kommunen und Bürgermeistern sowie sechs Polizeizonen. N-VA und PS verkörpern die beiden konträren politischen Kulturen des Landes: die flämischen Nationalisten dominieren im konservativen, wirtschaftsliberal geprägten Norden, die Sozialisten im frankofonen Süden.Und wenn der Dschihad-Experte Pieter Stockmans die jahrelange Unterfinanzierung der Sicherheitsdienste natürlich zu Recht moniert, so darf doch nicht übersehen werden, dass die systematische Regionalisierung Belgiens zu Lasten seiner föderalen Substanz ging. Dass es so weit kam, dafür tragen die flämischen Nationalisten entscheidende Verantwortung.Hitlergruß in BrüsselNach den Anschlägen scheint gerade die terroristische Gefahr diese Erosion noch zu forcieren. Am Ostersonntag zogen gut 400 Hooligans durch Brüssel, um die belgische Migrationspolitik zu attackieren. Es wurden Blumengebinde an den Gedenkorten für die Toten des 22. März zertreten, der Hitlergruß gezeigt und nationalistische Parolen skandiert. Der Brüsseler Bürgermeister Yvan Mayeur reagierte scharf: „Flandern kam und beschmutzte Brüssel mit seinen Extremisten, den Anhängern der N-VA.“Als Erklärung gibt die Aussage wenig her. Wenn durch die Hauptstadt nur N-VA-Anhänger marodierten, die sich in der Regel auf Flandern beziehen, dann wehten im Pulk zu viele belgische Flaggen. Andererseits kann das den Eindruck kaum erschüttern, dass die Kluft zwischen den Sprachgruppen und Regionen weiter wächst.