Philosophe Hans-Jürgen Heinrichs' Monografie setzt Mensch und Werk in Beziehung - und bringt die mäandernden Thesen des Karlsruher Philosophen auf eine überschaubare Form
Als Peter Sloterdijk 1947 geboren wurde, war der Krieg gerade zwei Jahre vorbei. So nahm er ihn fast noch als Realität wahr, als dunkles, drängendes Geflüster, aus dem nach und nach ein präzises Bild der historischen Fakten entstand. Diese Fakten setzten die erste nach dem Zweiten Weltkrieg geborene Generation nicht nur intellektuell, sondern auch – und vielleicht vor allem – psychologisch unter Druck, zwang sie, ein Verhältnis zu einem, zu ihrem Land zu entwickeln, das in einem bislang ungekannten Ausmaß Schuld auf sich geladen hatte.
Hans-Jürgen Heinrichs, zwei Jahre älter als Sloterdijk, weiß aus eigener Erfahrung, wie gebrochen, verschämt und schmerzhaft das Verhältnis gerade der ersten Jahrgänge nach der NS-Herrsch
NS-Herrschaft zum Land ihrer Geburt war. Und wenn diese Generation eine Aufgabe hatte, dann die, den Sprachmüll der Vergangenheit zu entsorgen und etwas Neues, eine nüchterne, offene Ausdrucksweise zu schaffen, die den Bruch mit dem Alten und die Konzentration auf die Zukunft erkennen ließ. Es ist darum nur konsequent, wenn sich Heinrichs in seiner großen Sloterdijk-Biografie und -Exegese zunächst auf den Schallraum der Nachkriegsjahre konzentriert, die verbalen Schwingungen, die manche Vertreter dieser Generation – Sloterdijk selbst vorneweg – aufgriffen und umprägten.„De-Definition“ der BegriffeSo erscheint Sloterdijk bei Heinrichs zunächst als Sprachkünstler, als einer, der nicht bereit ist, sich von stehenden Begriffen vereinnahmen zu lassen, sondern sie auf neue, bislang verborgene Deutungsmöglichkeiten abklopft, sie anders als üblich zu verstehen sucht. Sloterdijk betreibe eine „De-Definition“ der Begriffe, zitiert Heinrichs den Medientheoretiker Peter Weibel, er selbst spricht von einer „quecksilbrigen Assoziationslust“. Die „Lust“ deutet an, worum es in Sloterdijks Philosophie geht: Um Weltzuwendung und Weltdurchdringung, mehr aber noch darum, sich einzurichten in ihr, Freiheitsräume zu entdecken, das große Reich des Konjunktivs, in dessen Namen sich angehen lässt gegen die „Diktatur der Durchsichtigkeit“. Wenn Denken und Eros miteinander verwandt sind, dann darum, weil beide nach Erweiterung streben, nach neuen Entwicklungschancen fahnden, nach Formen der Selbstübersteigerung, pathetisch gesagt: nach Transzendenz.Sloterdijk selbst suchte diese Transzendenz für einige Monate im geistigen Trainingscamp von Shree Rajneesh, alias „Osho“, einem „Duchamp des intellektuellen Feldes“, wie er ihn nannte. Von ihm und von anderen lernte er, Zitat Sloterdijk, den „Steigerungen des Lebens zu applaudieren, grundlos.“ Doch das Verlangen nach Steigerung war zugleich auch eines nach Erlösung, von einer Zeit und einem Land, zu dem man sich in den späten Siebzigern noch unmöglich bekennen konnte. So verstanden, hat die Faszination des Philosophen für andere Lebensformen sehr konkrete, sehr deutsche, politisch-historische Motive. Allerdings ist nicht alles, was anders ist, darum schon gut. Wie verlogen die Rede von den Alternativen sein kann, zeigte Sloterdijk bereits in seiner Kritik der zynischen Vernunft, in der er eine luzide Phänomenologie des „aufgeklärten falschen Bewusstseins“ trieb und in aller Schärfe auf den doppelten Boden der damals gängigen revolutionären Sprachspiele hinwies.Unverarbeitete ZornesschübeSeitdem, zeigt Heinrichs, steht Sloterdijk allem revolutionären Pathos mit erheblicher Reserve gegenüber. Denn allzu oft wünscht man den Verhältnissen zwar, sie mögen sich ändern, weiß aber nicht, welche Richtung sie nehmen sollen. Dieses Phänomen hat Sloterdijk in seinem Buch Zorn und Zeit beschrieben. Von „thymotischen Energien“ schrieb er, ungelösten, unverarbeiteten Zornesschüben, wie sie sich in den Revolten der Pariser Banlieue von 2005 Bahn brachen und derzeit, in etwas kultivierterer Form, vielleicht auch in Stuttgart 21 zu beobachten sind: die womöglich bürgerliche Variante kommender Aufstände, die ihre Richtung und Form ebenfalls noch nicht gefunden haben.Dass politische Energien aber in Form gebracht werden müssen, das war die zentrale These dieses Buches: „Es könnte zum Stigma des 21. Jahrhunderts werden, die Ausbildung des Sinns für gemeinsame Situationen von unten nicht rechtzeitig zu schaffen.“ Eine mögliche Lösung dieses Problems sieht Sloterdijk in den schaumartigen, will sagen, beweglichen, flexiblen und „weichen“ Strukturen, die er in seiner Sphären-Trilogie skizziert hat. Freilich brauchen die vielen Blasen, um nicht zu platzen, eine hohe Elastizität.Dies gilt vor allem für das globalisierte Zeitalter, in dem die unterschiedlichsten Lebenswelten in bisweilen gefährliche Nähe zueinander geraten. Kollisionen sind nur dann zu vermeiden, wenn der Mensch über sich hinauswächst, also einerseits die Komplexität seiner Weltbilder steigert, andererseits sich den pathetisch gesagt irdischen Ansprüchen ein wenig entzieht. Leben heißt, sich dem Zugriff des Gegebenen zu entziehen, den Totalitarismus der Provinz hinter sich zu lassen. Wie das möglich ist, hat Sloterdijk in seinem großen Buch über „Vertikalspannungen“ beschrieben, einem Buch, das einen ebenso absolutistischen wie verheißungsvollen Titel trägt: Du musst dein Leben ändern.Unter der eleganten Feder Hans-Jürgen Heinrichs nimmt Sloterdijks mäandernde Philosophie eine überschaubare Form an, verkleinert sich auf einen zwar noch immer nicht leicht, aber doch leichter überblickbaren Maßstab. Nicht zuletzt setzt der Berliner Publizist Mensch und Werk in Beziehung, zeigt, wie die Wahrnehmung eines diffusen Nachkriegs-Raunens sich verwandelte in höchste Sensibilität für die Einflüsterungen des Zeitgeistes, den man zwar zur Kenntnis nehmen, ihm darum aber lange noch nicht folgen muss. Vielmehr muss man ihn in Form bringen. Das tut Sloterdijk, und Heinrich beobachtet ihn dabei – und zwar so genau, präzise und aufmerksam, dass der Leser als Beobachter zweiter Ordnung versteht, was es heißt, einem Philosophen ins Herz, Hirn und vor allem ins Sprachzentrum zu schauen.
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