Smarte Pandemie: Wie Corona zum Durchbruch des Datenkapitalismus werden könnte
Meinung Das Virus, die Daten, die Zukunft: Covid-19 als Zeitenwende? Der gesunde und der kranke Körper sind ein paradigmatischer Zukunftsmarkt – den Corona jetzt eröffnet hat
Bei Pharma-Konzernen läuft so etwas unter „Selfcare“, also „Selbstfürsorge“
Foto: Luca Sage/Getty Images
In den letzten beiden Jahren konnte man beobachten, dass die Linke zur Überwindung ihrer gesellschaftlichen Ohnmacht zu erstaunlichen Bündnissen fähig ist. Ohne zu zögern hakte sie sich bei Kapital und Staat unter, marschierte in verblüffender Einigkeit mit ihren einstigen Erzgegnern durch die Pandemie. Sorgte der Staat mit autoritären Mitteln für Vereinzelung – Kontaktverbote, Ausgangssperren, Versammlungsverbote –, forderte die Linke mehr davon und nannte es „solidarischen Shutdown“. Winkte dann die Kapitalseite mit Rettung durch Videokonferenzen, Corona-Apps und Impfungen, half die Linke eifrig bei der Installation des digitalen Segens und der Verteufelung der „Gefährder“ – Datenschützer, Ungeimpfte,
e, Zweifler.Hätte die Linke noch einen Begriff vom Kapitalismus, wäre ihr wohl aufgegangen, dass eine solche Krisenpolitik kaum dem Schutz der Gesundheit diente, sondern in erster Linie der kapitalistischen Erneuerung. Um das zu verstehen, muss man die ökonomische Dimension der Pandemie begreifen. Das ist nicht leicht. Der Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Andrea Komlosy gelingt es in ihrem Buch Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft auf beeindruckende Weise.Das Virus tauchte in einer ökonomischen Krisensituation auf. Seit den 1970er Jahren strauchelt der Kapitalismus. Es wurden Standorte verlagert, Löhne gedrückt, Arbeitnehmerrechte abgebaut, Gesundheit und „Care“ als neue Märkte erschlossen und die Finanzmarktspekulation auf ein ganz neues Niveau gehoben. Was folgte, war keine Stabilisierung, sondern soziale Verwüstungen im globalen Maßstab und 2008 ein Finanzcrash. Der traditionelle Industriekapitalismus scheint am Ende, doch der neue Dienstleistungs- und Care-Bereich wirft trotz aller Spar- und Effizienzbemühungen letztlich wenig Gewinn ab. Die Finanzindustrie erlaubt zwar einträgliche Spekulationen, aber kein wirkliches Wirtschaftswachstum. Um der Krise Herr zu werden, braucht es dringend neue Wachstumsbranchen – also letztlich neue Produkte, neue Absatzmärkte und neue Konsumenten, die diese Produkte kaufen, im Idealfall auch neue Rohstoffe, die billig zu haben sind und als teure Waren weiterverkauft werden können.Bereits vor Corona deutete sich an, dass die viel beschworene Digitalisierung hier der Schlüssel ist. Dabei geht es nicht um eine harmlose Modernisierung, die alles ein bisschen praktischer und effizienter macht. Sondern um die Durchsetzung eines kybernetischen Kapitalismus. Kybernetik bedeutet „Kunst des Steuerns“. Gemeint ist eine Gesellschaft, die in all ihren Bereichen – einschließlich solch heikler Gebiete wie Justiz oder Gesundheit – durch künstliche Intelligenz, smarte Umgebungen und Mensch-Maschinen-Konstrukte algorithmisch „gesteuert“ wird. Diese kybernetische Datenwirtschaft soll und könnte dem Kapitalismus aus der Klemme helfen.Die neuen Rohstoffe sind Daten, also Informationen über menschliches Verhalten und menschliche Erfahrung. Die Ökonomin Shoshana Zuboff hat ein monumentales Werk zum „Zeitalter des Überwachungskapitalismus“ geschrieben. Sie bringt Googles Haltung wie folgt auf den Punkt: „Wir beanspruchen menschliche Erfahrung als herrenlosen Rohstoff.“ Daher könne man „Rechte, Interessen, Kenntnisnahmen und Verständnis der Betroffenen ignorieren“.Ein smartes PflasterKann der Datenrohstoff in solch bewährt kolonialer Manier zum Nulltarif angeeignet werden, muss als Nächstes sichergestellt werden, dass man ihn lukrativ verarbeiten und weiterverkaufen kann. Das geschieht, indem man Daten verknüpft und so Prognosen errechnet über Verhalten oder Körperreaktionen aktueller oder zukünftiger Konsumenten. Diese Prognosen kann man weiterverkaufen. Die Käufer interessieren sich für diese Daten nicht nur, um Werbung zielgenau platzieren zu können, sondern auch, um zukünftige Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Optimierungspotenziale und damit Absatzmärkte vorhersehen und sich mit den passenden Produkten platzieren zu können.Aus Sicht von Andrea Komlosy wird die digitalisierte, datengetriebene Gesundheitswirtschaft die wichtigste Wachstumsbranche des kybernetischen Kapitalismus sein. Denn der gesunde oder kranke Körper hält nicht nur einen noch unermesslichen Datenschatz bereit, den es zu bergen gilt. Der Körper ist auch ein wunderbarer Absatzmarkt für all die Produkte, die sich zu seiner Gesundhaltung und Optimierung erfinden und verkaufen lassen.Der Pharmakonzern Sanofi berichtet beispielsweise in einer aufwendigen digitalen „Anzeigensonderveröffentlichung“ in der FAZ euphorisch von einem „Pflaster, das mithilfe eines Sensors erkennt, ob sich ein Hauttumor vergrößert, und die Messdaten an ein Labor sendet. Eine solche Beobachtung in Echtzeit könnte das Hautkrebsrisiko reduzieren“. Die digitale Überwachung der Gesundheit mit solchen Pflastern oder anderen digitalen und biotechnologischen Hilfsmitteln ermögliche es, „Verantwortung“ zu übernehmen und „souverän“ für sich selbst zu sorgen. Die potenten und smarten Nachfolger von Dr. Google ermächtigen zur vermeintlich eigenständigen Diagnose und Selbstmedikation. Den Besuch beim Arzt kann man sich so sparen. Sanofi nennt das „Selfcare“. Die Technik „begleitet“ nur und gibt „Empfehlungen zu Ernährung, Bewegung, Schlaf und medizinischen Hilfs- und Arzneimitteln“. Die „Experten“ in der Werbebroschüre sehen eine Welt grenzenloser Möglichkeiten vor sich, wären da nicht der lästige Datenschutz und nervige Sicherheitsbedenken. So sagt ein Sanofi-Experte: „Ich glaube, der limitierende Faktor sind tatsächlich immer noch die Daten. Auch wenn wir so viele haben, wir hätten gerne mehr. Das liegt einfach daran, dass dann, wenn man die richtigen Daten hat, die Lösung quasi auf der Hand liegt.“ Eine andere Sanofi-Expertin formuliert ganz bescheiden: „Ich wünsche mir erstens weniger Ängste und Sorgen im Hinblick auf Datenschutz, weil das der größte Verhinderer im Hinblick auf Digitalisierung ist. Ich wünsche mir zweitens, dass alle Systeme miteinander kommunizieren können. Wir haben heute in Krankenhäusern unterschiedliche Softwaresysteme, daher kann man Daten nicht miteinander verknüpfen, und das verhindert viel Wissen. Ich wünsche mir drittens, dass die elektronische Patientenakte mit dem elektronischen Impfpass zum Laufen kommt.“Solche und noch viel weitreichendere Wunschlisten sind nicht einmal etwas Neues. Sie zirkulierten bereits vor der Pandemie in Regierungskreisen, unter Managern, transnationalen Thinktanks und Lobbygruppen. Diese Akteure waren im Frühjahr 2020 nicht nur mit einem neuartigen Virus konfrontiert, sondern auch mit einem seit Jahren strauchelnden Kapitalismus, dessen kybernetische Erneuerung sich zwar abzeichnete, aber noch nicht so recht gelingen wollte.Es ist daher weder ein überraschender Zufall noch eine geplante Verschwörung, dass die Pandemie nahezu ausschließlich mit allerlei digitalen und biotechnologischen Hilfsmitteln der IT- und Pharmaindustrie bewältigt werden sollte. Politikern und ihren Beratern aus Wirtschaft und Wissenschaft war eine solche Bewältigung nicht nur aus vorherigen Pandemieplanspielen bekannt. Sie drängte sich in der beschriebenen ökonomischen Situation auch schlicht auf. Warum die Gelegenheit nicht beim Schopfe packen und mehrere Probleme gleichzeitig lösen?Es wäre die Aufgabe der Linken gewesen, hier genauer hinzuschauen, Interessen zu benennen, Machtverhältnisse anzugreifen und Alternativen aufzuzeigen, anstatt sich mit der herrschenden Klasse gemein zu machen.
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