So tun als ob, gehört zum Spiel

Ein-Euro-Jobber Nach drei Monaten gemeinnütziger Arbeit geht´s zur Schulung. Szenen eines Unterrichtsgesprächs

Morgens im Halbrund eines Berliner Schulungsraums: 20 Menschen, hinbefohlen, wartend, ein Querschnitt durch Neue und Alte Armut. Gestalten, die als "Ein-Euro-Jobber" gesichtslos durch die Medien geistern, sind hier zum Anfassen nah: Es sind Leute wie du und ich. Jeder und jede könnte hier sitzen.

Die Geschichten der Ein-Euro-Jobber, die hier zu einer dreitägigen Schulung gekommen sind, könnten unterschiedlicher kaum sein. Da sitzt der freiberufliche Musikwissenschaftler, dessen Schul-AGs abgewickelt wurden, neben einer Frau, die verschämt eingesteht, dass sie Hausfrau war, geschieden ist und keinen Beruf hat. Würde man heiteres Beruferaten machen, man säße die ganze Nacht hier. Ein Budenbauer sitzt da, von 40 Jahren harter Jahrmarkt-Arbeit gezeichnet, ein Erfinder, dessen Patente niemand produzieren will, eine Webdesignerin. Bauarbeiter neben Betonbauer, Tischlerin neben IT-Spezialist, Verschaler neben Objektschützer. Die Runde schließt ein gescheiterter Bauunternehmer, der genug Aufträge hatte, dessen Kundschaft aber die Rechnungen nicht bezahlte, weil deren Rechnungen auch nicht bezahlt wurden. Die Akademiker unter ihnen werden - wie oft "Gebildete" in diesem Rahmen - drei Tage lang würdevoll schweigen, und mit jenen schweigt das Hochdeutsche und das höfliche Sie. Stattdessen wird im Du jemütlich berlinert.

Das, was diese 20 Ungleichen zusammenbindet, ist ihr Status als Arbeitslosengeld-II-BezieherInnen und die Not, die sie zwingt, in Zusatzjobs gegen Mehraufwandsentschädigung (MAE) zu arbeiten. Aber heute sind die dreieinhalb Monate Handarbeit vorbei - jetzt beginnt das, was "Qualifikation" heißt: werktäglich sechs Stunden Anwesenheit bei Erste-Hilfe-, Computergrundkursen, Schulungen in Sozial- und Alltagsrecht oder anderem. Vier bis sechs Wochen lang. Interessant aber unklar, warum? Sechs Stunden Anwesenheit bringen neun Euro MAE.

Eine Qualifikation unter solchen Vorzeichen kann nur so beginnen: "Wann ist Schluss und wann machen wir Pausen?" Anleiter und Kursteilnehmer verhandeln. "Wir verzichten auf Pausen und machen früher Schluss?" "Ist freitags früher Schluss?" - "Nein, das geht nicht!" sagt der Anleiter. Die Beteiligten wissen, es geht aber doch, weil man einfach geht. Jemand muss zum Arzt, eine andere zum JobCenter, ein Dritter oder Vierter muss seine Kinder beaufsichtigen, weil die Kita heute wegen Betriebsausflug früher schließt. Alle wissen: Der Kursleiter hat Skrupel und meldet es nicht.


Mit den Übriggebliebenen entspinnt sich ein Gespräch. Der Kursleiter interessiert sich für das, was die Leute erlebt haben. Er stellt die Frage der Fragen: "Wer von Ihnen glaubt, dass sein MAE-Zusatzjob seine Chancen auf Übernahme in ein reguläres Arbeitsverhältnis verbessert hat?" - Schweigen. Grinsen. Der Jüngste sagt: "Icke!" - Schallendes Gelächter! "Ja, wieso denn ditte?", fragt sein Nachbar. Er, errötend: "Mein Vorarbeiter vom Amt, der mit dem Zauselbart, hat jesagt, wenn ick mich anstrenge, übanehmen se mich vielleicht." - Brüllendes Lachen! "Dat hast du jegloobt? Dat liegt an deiner Jugend!"

Der Kursleiter möchte die Wellen wieder glätten und murmelt etwas von den arbeitsplatzvernichtenden Rationalisierungs- und Stellenverlagerungsprozessen, Schuld seien ja nicht die hier Anwesenden... Doch der Bauunternehmer unterbricht ihn und schreit aggressiv: "Da mach ick nich mit! Ick will wissen, wie und wo ick eenen Job krieje, det andere interessiert mich nich." Der Kursleiter geht aufs Ganze: "Ich müsste jetzt sagen, du wirst es schaffen, eine Stelle auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, aber ich sage euch, ihr werdet es nicht schaffen!"

Das denkbar Schlimmste war gesagt! "Du wirst es nicht schaffen!" Stille. Stille. Stille. Dann rappelt sich der Objektschützer auf: "Dat hört aba det JobCenter nich so jern!" Erlösendes brüllendes Lachen. Die Unterrichtsverweigerung unterbleibt, der wütende Bauunternehmer trotzt, später zeigt sich: Er hat Schulden, die ihn langsam in die Verzweiflung treiben. Es gehört zum Spiel, dass alle Anwesenden wissen, sie werden es nicht schaffen, einen Job auf dem ersten Arbeitsmarkt zu bekommen, aber jeder redet und tut so, als wenn man es schaffen wolle und werde.


Schon bald kommt das Thema aufs Geld. Und da wird´s schwierig. Was verdient man mit einem Ein-Euro-Job? "Na, verdient ham wa een Euro." "Nee", berichtigt ihn ein anderer, "een Euro fuffzich." Und die Dritte: "Nee, verdient ham wa jar nüscht, dat war ne Aufwandsentschädigung." Der Kursleiter verlangt präzisere Angaben: "Was antwortet ihr einer Friseuse, wenn sie fragt, wieviel ihr im Monat verdient?" Antwort: "Een Euro fuffzich, macht 180 Euro monatlich für 30 Stunden in der Woche!" - "Und was ist mit den 345 Euro Grundsicherung, dem Mietzuschuss und den SV-Beträgen? Das sind brutto über 1.000 Euro!" Stille. "Det steht mir zu." - "Warum?" Stille. "Dat steht im Grundjesetz." Jede der Antworten ist richtig und falsch zugleich: Ich verdiene nichts, ich verdiene 180 Euro für 120 Stunden, oder ich verdiene brutto 1.000 Euro für 120 Stunden.

Als der Kursleiter wissen will, ob jemand zum MAE-Zusatzjob gezwungen wurde, antwortet der Budenbauer: "Nee - ick wollte von mir aus arbeeten. Raus aus dem Wohnzimmer! Die Decke fiel mir ja uff´n Kopp." Als das Schreiben vom Amt kam, sei er gleich hin und habe die Stelle angenommen. Wenn sie ihm nicht gepasst hätte, wäre aber auch nichts passiert. Die Tischlerin erzählt, sie sei vom Träger angesprochen worden. "Die waren zufrieden mit mir und wollten mich wieda ham, icke sie ooch." Alle bestätigen das. Mehrere suchten und fanden aus eigenem Antrieb die Stellen, die ihnen zusagten. Niemand war gezwungen worden, und alle standen doch unter einem höheren Zwang: Dem Zwang, der aus der Not kommt, der aus der Vereinsamung, dem Gefühl überflüssig zu sein, entspringt.

Auf Nachfrage erzählen viele von ihrem Werk und sind eigentlich stolz darauf: Sie bereiteten Geländespiele vor oder arbeiteten in einem Garten. Sie zeigten Kindern, wie man Computer bedient oder halfen im Museum. Sie fegten Laubhaufen zusammen, "und die Miniermotte ham wa ooch bekämpft!" Sie richteten Wanderwege her und halfen in der Kita: "Dat war doch alles jut für die Alljemeinheit!" Viele würden dasselbe jederzeit wieder machen.


Hin und wieder seien Ein-Euro-Jobber doch als Rechtlose und Geknechtete bezeichnet worden, sagt der Kursleiter, ob sie sich auch so gefühlt hätten, fragt er kritisch. Die Antwort kommt prompt: "Nee-doch! Eenmal ham se uns bei Regen rausjeschickt und sind selba drinnejebliebn. Und eenmal ham wa Wegebau jemacht - det war verboten." Sie hätten es aber trotzdem gemacht. "Wenn wir´s nicht jemacht hätten, wär´s ooch ejal jewesen." Eine erzählt, sie sei in einer Kita gewesen. Vier Träger hatten vier Leute geschickt, für eine einzige Stelle. Sie losten unter sich aus, wer den nächsten Staub wischen durfte. "Det Schlimmste war rumzusitzen und nix machen zu dürfen."

Der Objektschützer berichtet von der Arbeit im Wald. Niemand sei da gewesen, der sich um sie gekümmert hätte. Der Förster war nur noch alleine, sämtliche Mitarbeiter längst entlassen. "Der hatte wat Besseres zu tun als uns zu übawachn!" Ein anderer aus dem Waldtrupp: "Wir ham alles selba jemacht und beschlossen. Im Wald ham wa imma jearbeitet, det war schön, in der frischen Luft."

Der Objektschützer frotzelt: "Wat glooben Se? Für een Euro die Beene ausreißen?" Ein anderer ruft: "Die sind doch wochenlang im Bauwagen jelegen!" Alle lachen. Geduldig wird dem Kursleiter erklärt: "Wenn wir nix arbeeten wollten, ham wa eben nix jearbeitet." Der Kollege vom Amt hat mit denen gearbeitet, die arbeiten wollten; wenn einer nicht wollte, hat den das nicht jekümmert. Der war froh, dass er selber noch Arbeit gehabt hat, sagen die Teilnehmer. Eine der Jüngeren erzählt: "Wir hatten zwee Junge, die kamen schon besoffen hin - die standen in der Ecke mit der Bierflasche in der Hand. Mir war dat egal; den andern ooch." Ihre Nachbarin protestiert: "Nee, ick hab die heimjeschickt!"

In der Pause sagt eine Frau das, was sie nicht vor allen zu sagen wagte: "Det Schlimmste war nich die Arbeit oder det Jeld oder det Unjerechte - det Schlimmste waren die Leute, mit denen ick zusammensitzen und det Jerede, wat ick anhören musste. Tach für Tach, Woche für Woche! Ejal, ob bei Regen und Kälte, immer raus aus dem Bauwagen, lieba Arbeiten als det anhören müssen."


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