So was von da

Präsenz Judith Butler entwirft eine Utopie politischer Versammlungen
Ausgabe 48/2016
„Demokratie der Straße“: Occupy Wall Street
„Demokratie der Straße“: Occupy Wall Street

Foto: Andrew Burton/Getty Images

Nach Trumps Wahlsieg ist die Frage dringlicher denn je, was man dem Rechtspopulismus aus Sicht einer weltoffenen, auf Gerechtigkeit abzielenden Linken entgegenstellen kann. Vor gerade einmal fünf Jahren richtete sich die Hoffnung noch auf die „Demokratie der Straße“, man denke an die Versammlungen auf dem Tahrirplatz in Kairo, an die Puerta del Sol in Madrid, die Proteste in Griechenland oder an Occupy Wall Street. Heute dominieren Pegida, rechtspopulistische Führer und Mobs unsere Wahrnehmung und die politische Debatte. Kann hier Judith Butlers neues Buch Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Auskunft und Orientierung geben? Die Philosophin, Gender- und Differenztheoretikerin hat ein anspruchsvolles Werk vorgelegt, das viele Themen fortentwickelt, die sie in den vergangenen Jahren – zuletzt in ihren Schriften über den Krieg – bearbeitet hat. Es wirft jedoch auch viele Fragen auf.

Abhängigkeiten bejahen

Butler versteht die Proteste der vergangenen Jahre als Kämpfe um ein lebenswertes Leben, die sich gegen neoliberale individuelle Verantwortungszuschreibungen und wachsende Prekarität richten. Nicht nur gebildete Mittelschichten, auch marginalisierte Gruppen und Arbeitslose waren Hauptakteure bei den Protesten des Arabischen Frühlings und in Südeuropa. Butler hofft deshalb darauf, dass sich unter dem Label der Prekarität weitere Koalitionen zwischen verschiedensten ausgeschlossenen und nicht anerkannten Gruppen schmieden lassen.

Dabei interessiert Butler zunächst einmal der körperliche Aspekt. Wenn Menschen sich versammeln, verwirklichen sie etwas im Tun, das über das sprachlich Gesagte hinausgeht. In der Präsenz der Körper zeigt sich eine politische Performativität: Menschen treten in Erscheinung, zeigen sich im öffentlichen Raum und sagen schon damit etwas, bevor sie beginnen, Forderungen zu erheben. Aus diesem Grund unterscheidet Butler strikt die Versammlungs- von der Meinungsfreiheit. Erstere ist für sie ein politisches „Vorrecht“, nämlich das performative Recht, zu erscheinen. Dieses trennt sie von dem Recht, bestimmte Dinge zu sagen.

Versammelte Körper stellen für Butler per se die Inszenierung einer pluralen und vorläufigen Souveränität dar sowie eine Forderung nach Sichtbarkeit, Anerkennung und lebenswerten – wirtschaftlichen, sozialen und politischen – Bedingungen. Erhebt man dann die Stimme, etwa im Namen des Volkes, verengt sich das politische Geschehen. Denn jede Proklamation eines Volkes enthält den Ausschluss von anderen, etwa entlang der Grenzen von Staaten, Ethnien oder politischen Zugehörigkeiten.

Worin aber besteht für Judith Butler der Unterschied zwischen progressiven und regressiven Versammlungen? Sie unterscheiden sich – und hier wird Butler konventionell links-liberal – in ihren politischen Idealen und handlungsleitenden Prinzipien: Regressive Versammlungen setzen auf Ausschluss, auf Freund-Feind-Antagonismen sowie die Leugnung unserer wechselseitigen Abhängigkeiten, also unserer Interdependenz.

Nun erscheint dieses Ideal einer Versammlung, die alle ein- und niemanden ausschließt, recht utopisch. Auch linke Subkulturen sind erfahrungsgemäß exklusiv. Zudem verbindet sich diese Schwarzweißmalerei mit der Herabsetzung der üblichen Verdächtigen: weiße rassistische Männer, die nur ihre Privilegien verteidigen wollen. Auch wenn diese Analyse in einem ethischen Sinne zutreffen mag, so betreibt sie im politischen Prozess die Abwertung anderer mit den Mitteln der Moral.

Eine neue Form von Solidarität und progressiver Politik, schreibt Butler, setzt voraus, dass die Interdependenz menschlicher Existenzen erkannt und bejaht wird. Individuen sollen noch unter den unerträglichsten Lebensbedingungen autonom handeln. Butler stellt dieser neoliberalen Forderung die Erfahrung entgegen, dass jeder Mensch von anderen Menschen und einer stabilen Infrastruktur abhängig ist.

Sobald man beginnt, die anderen Leben (auch die nichtmenschlichen) als gleichwertig zum eigenen und verwoben mit dem eigenen Leben anzusehen, kann für Butler daraus eine neue Ethik des Zusammenlebens erwachsen. Prekarität und alle Formen sozialer Ungleichheit beruhen auf der ungleichen Verteilung von Abhängigkeiten und Verwundbarkeiten. Eine progressive Politik sollte aber eben nicht liberalistisch auf eine Autonomie ohne jede Abhängigkeit abzielen, sondern auf die Bejahung wechselseitiger Abhängigkeiten – eine zentrale Idee Butlers, die sich bis zu Emile Durkheim und John Dewey zurückverfolgen lässt. Nur eine Anerkennung von Verletzbarkeit, die ihren Ausgang beim menschlichen Körper nimmt, der anderen Körpern ausgesetzt ist, vermag eine Kultur der Kooperation zu nähren.

Zum Miteinander finden

Genau hier liegt die Herausforderung: Wie kann eine Linke Wege in die Anerkennung von Interdependenz und Verletzbarkeit ebnen, wenn die gegnerische Seite auf gestählte Kollektivkörper setzt, die ihre Größe aus der Abwertung anderer beziehen? Darauf bleibt uns Butler eine Antwort schuldig. Sie betont zwar zu Recht, dass wir auf diesem Planeten zusammenleben, auch weil wir keine andere Wahl haben. Daraus erwachsen jedoch noch keine attraktiven und damit mobilisierenden politischen Ideen des Miteinanders. Die Dialektik des Ein- und Ausschlusses ist komplizierter, und vor dieser Einsicht sollte sich auch die differenztheoretische Linke nicht verschließen. Sonst kommt es tatsächlich zu einer Spaltung zwischen der alten Linken, die auf Umverteilung setzte, und der neuen Linken, die auf Minderheiten und Identitätspolitik abzielt – und in diese Lücke springen Rechtspopulisten oder Neofaschisten, die sich bekanntlich weder für Umverteilung noch für Minderheitenschutz einsetzen.

Info

Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung Judith Butler Suhrkamp 2016, 312 S., 28 €

Frank Adloff lehrt Soziologie an der Universität Hamburg

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