Sofortbilder für immer

Ausstellung Im Polaroid-Wunderland: Sibylle Bergemanns Fotografien beherbergen nicht nur Liebreiz, sondern auch Brüche und Zweifel

Der Tisch und die Stühle am Meer sind verwaist. Der gelb gekachelte Treppenzugang ist menschenleer. Die Zeichen stehen auf Abschied. Mit einer Ausstellung von 140 Polaroids von Sibylle Bergemann ehrt die Galerie C/O Berlin die im November vergangenen Jahres gestorbene Fotografin, die am 29. August 70 Jahre alt geworden wäre.

Die weiß umrandeten Sofortbilder, von Bergemann von 1979 bis 2010 mit einer Polaroid SX-70 aufgenommen, sind nicht chronologisch auf grauen Wänden aneinandergereiht. Wer nah herantritt, erkennt Details auf den delikaten Miniaturen: die zierliche Figur einer Tänzerin im Gegenlicht, drapierte Federn auf dem Fensterbrett, als Prinz und Prinzessin, Ritter und Froschkönig verkleidete Kinder, die mit ernster Miene in die Kamera blicken; eine Reihe mädchenhafter Lolitas mit dickem Make-up und Furor im Gesicht. Bergemann nutzte die Sofortbilder für Porträt­serien, Pflanzenstudien und Stillleben in Farbe und Schwarz-weiß. Der Firnis vergangener Tage haftet wie Feenstaub auf diesen Unikaten, die mit der Zeit kunstvoll ausbleichen.

Präzise in der Komposition

Als „fotografische Notizen einer Romantikerin“ bezeichnet die Journalistin Jutta Voigt im Katalog zur Ausstellung die Polaroids von Bergemann. Darunter befinden sich vorbereitende fotografische Skizzen für Aufträge, etwa beim Fototermin für Magazine, aber auch somnambule Momentaufnahmen und verspielte Anekdoten wie der zwischen Baumästen hervorlugende Osterhase in Stanniolpapier.

Bergemann, 1941 in Ost-Berlin geboren, arbeitete ab 1967 als Fotografin. Ihre Modefotos für Zeitschriften wie Sibylle und Porträts für Das Magazin und den Freitag-Vorgänger Sonntag gelten als ästhetische Landmarken der DDR-Fotografie: präzise in der Komposition, autark im melancholischen Ausdruck, der in latentem Widerspruch zur herrschenden Bildsprache im sozialistischen Realismus stand.

Puppenhaftes Reich

Nach der Wiedervereinigung war Bergemann für das Reise-Magazin GEO unterwegs. Sie gründete mit Kollegen die Fotoagentur Ostkreuz, hatte Lehraufträge und veröffentlichte Bildreportagen. „Für Modefotografie war ich zu alt“, sagt sie beiläufig in dem Dokumentarfilm Mein Leben – die Fotografin Sibylle Bergemann von Sabine Michel, der 2010 gedreht wurde und in der Ausstellung zu sehen ist. In Dresden läuft im Leonhardi-Museum parallel eine Werkschau ihrer Arbeiten, auch dort werden einige Polaroids gezeigt.

Zurück zu den Polaroids in Berlin, die in dieser Fülle erstmals öffentlich präsentiert werden und in der Konzentration aufs Medium einen Glücksfall darstellen. Die Bilder entführen den Betrachter in ein puppenhaftes Reich hinter den Spiegeln: In diesem Wunderland tauchen zartgliedrige Frauen, durch milchiges Licht gefilterte Schwäne und Elfen auf, tollen Kinder durchs ländliche Idyll. Fragmente urbanen Lebens verschwimmen in leeren Räumen oder entgleiten vor maroden Fassaden. Die Mise-en-scène beherbergt bei allem ätherischen Liebreiz auch Brüche und Zweifel; Meerjungfrauen kentern, Barbie ruht in ihrem Wassergrab. Zwei Frauen, moderne Amazonen auf High Heels, die eben noch Hand in Hand im gelb gekachelten Eingang zur Treppe huschten, sind in einem zweiten Bild aus der Sichtachse verschwunden und nicht mehr von dieser Welt. Ulrike Mattern

Sibylle Bergemann. PolaroidsC/O Berlin. Bis 4. September. Der Katalog ist bei Hatje Cantz erschienen und kostet 28,80

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