Jetzt haben es Budapest und Bratislava schwarz auf weiß: Der im September 2015 auf EU-Ebene – gegen die Stimmen Ungarns, der Slowakei, Tschechiens und Rumäniens – beschlossene Umverteilungsschlüssel für in Griechenland und Italien gestrandete Flüchtlinge ist einzuhalten. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat eine Klage Ungarns und der Slowakei zurückgewiesen. Dass von den 160.000 betroffenen Asylsuchenden bisher nur 27.000 verteilt werden konnten und auch Staaten wie Österreich säumig sind, und Deutschland weit von der Erfüllung seiner Quote entfernt ist, focht die Richter nicht an. Brüssel erhöhte mittlerweile den Druck auf Polen, Tschechien und Ungarn, indem es wegen der Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, bere
ereits im Juni drei Vertragsverletzungsverfahren einleitete.Der europäische Umsiedlungsplan sieht für Ungarn 1.294 und für die Slowakei 902 aufzunehmende Antragsteller auf Asyl vor. Daran werden weder das „Ungartum“ noch der slowakische Nationalcharakter zugrunde gehen. Warum also die Aufregung? Weshalb die – nun abgewiesene – Klage vor dem EuGH? Die gängige Erklärung spricht von stark verwurzelter Ausländerfeindlichkeit im europäischen Osten, die von rechts kommend weit in die gesellschaftliche Mitte reicht. Das ist nicht falsch, bleibt aber an der soziologischen Oberfläche, ohne ökonomische und geopolitische Ursachen auszuheben. Diese müssen in das kontrovers diskutierte Thema mit einbezogen werden.Schengener VorpostenDer große Zusammenhang zwischen Kriegen, die von westlichen Allianzen betrieben (Irak, Afghanistan) oder befeuert (Syrien, Libyen) werden, und Massenmigration sollte schon erinnert werden. Auch die durch den Vormarsch profithungriger Agrarkonzerne und Fischtrawler-Flotten ausgelösten oder verstärkten afrikanischen Wanderströme, Mahnbilder zerstörter Subsistenz, sollte man sich vor Augen halten.Und es genügt ein Blick in die kleine Welt der EU mit ihren sozialen und regionalen Disparitäten, um das Missfallen osteuropäischer Staaten an der Brüsseler Flüchtlingspolitik, die – nebenbei bemerkt – eine deutsche ist, zu verstehen.Am ungarischen Beispiel zeigt sich besonders deutlich, wie schonungslos und nur auf den eigenen Vorteil bedacht der westeuropäische Zentralraum mit seiner osteuropäischen Peripherie verfährt. Der Schub der Osterweiterung vom 1. Mai 2004 sicherte den oft deutschen, österreichischen oder niederländischen Unternehmen ihre in der Transformationszeit per Markterweiterung gestärkte Position. In Ungarn gab es – mehr noch als in anderen EU-Beitrittsstaaten – einen nachgerade vollkommenen Wechsel der Eigentümer in der Industrie, dem Energie- und Finanzsektor. Nach kurzer Wendeeuphorie empfanden dies viele Ungarn als Demütigung.Dank niedriger Löhne und Sozialleistungen eingefahrene Gewinne fließen auf die Konten ausländischer Konzerne, während eine von Brüssel überwachte Austeritätspolitik dem Staat in sozial- und regionalpolitischen Belangen weitgehend die Hände bindet – der dann allerdings wiederum beim Schutz der Außengrenze gefordert ist. Die Struktur der EU bringt es mit sich, dass die osteuropäische Peripherie als Vorposten des Schengenraumes fungiert. Die Dublin-Ordnung macht aus Polen, der Slowakei und Ungarn Wächterstaaten an der Außengrenze. Als solche müssen sie sich – ausgestattet mit hochmodernem Equipment wie Wärmebildkameras, Hubschraubern und Drohnen – verhalten, wollen sie nicht automatisch zum Aufnahmeland sämtlicher Asylsuchender werden, die über den südöstlichen Landweg in Richtung Nordwesten streben. Mit dem Regelwerk der Dublin-Verträge ist es Deutschland gelungen, die Last der anbrandenden Armut von Kriegsflüchtlingen und sozial Entwurzelten den Randstaaten der EU aufzubürden. Denn jenes Land, in dem ein sogenannter Drittstaatler zuerst EU-Boden betritt, ist für sein Asylverfahren zuständig. Seit Griechenland in Folge eines Spruchs des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Jahr 2011 wegen „systemischer Mängel im Asylwesen“ davon befreit ist, bleiben als wichtigste Frontstaaten Italien und Ungarn. Um entsprechend der Dublin-Regeln überhaupt in Deutschland Asyl beantragen zu können, müsste der Schutzsuchende über die Nord- oder Ostsee oder direkt mit dem Flugzeug kommen; letztere Möglichkeit wurde bereits im sogenannten Asylkompromiss von 1993 erschwert, der die Abhaltung von Schnellverfahren in Transiträumen möglich machte.Niemand will nach UngarnAm 31. August 2015 setzte dann Angela Merkel das viel diskutierte Willkommenssignal und damit Schengen außer Kraft. Hunderttausende zogen durch Ungarn ins gelobte Land oder weiter nach Schweden. Niemand von ihnen wollte in Ungarn bleiben, keinen zog es in die Slowakei oder nach Polen. Ein flüchtiger Blick auf das deutsche Sozialsystem sowie deutsche oder gar schwedische Löhne genügte Syrern, Afghanen und Irakern, um ihr Zielland zu bestimmen, was man ihnen nicht verübeln kann, aber Erwähnung finden muss. Ungarns Premier Orbán ließ, ganz dem Geist von Dublin entsprechend, entlang der EU-Außengrenze einen Zaun hochziehen, um nicht im Fall deutscher Rückweisungen mit all diesen Asylverfahren übrig zu bleiben. Im Prinzip leistete er die Schmutzarbeit.Währenddessen ordnete Brüssel die Umverteilung der in Griechenland und Italien Gestrandeten an. Osteuropa – so der Tenor und die Rechtsprechung – müsse Solidarität üben. Solidarität mit wem? Mit Griechenland und Italien, wo täglich Verzweifelte stranden, die Merkels Ruf im Ohr und Deutschland als Ziel vor Augen haben? Mit den Hilfesuchenden, die nichts weniger als nach Ungarn, Polen oder in die Slowakei wollen? Wohl eher mit Deutschland und Schweden, die längst still und leise darangegangen sind, massenhaft Asylsuchende abzulehnen und danach abzuschieben. Solidarität ist dafür jedoch der falsche Ausdruck. Ostabschiebung wäre ehrlicher. In Osteuropa herrscht eine Meinung vor, die Viktor Orbán bereits zum Ausdruck brachte, als die Flüchtlingskrise im Frühherbst 2015 kulminierte: Dass diese kein ungarisches Problem, sondern ein deutsches sei.