A
All Summer Long „My thoughts were short, my hair was long“ – ja, so ungefähr war der Sommer 2007 für mich auch, als 17-Jähriger: lange Haare und dumme Ideen. Viel war neu, aber eine Sache klang schrecklich bekannt: der Sommerhit dieses Jahres, All Summer Long, aus der Feder von Kid Rock. Wobei: Eigentlich stammt er aus acht Federn und bedient sich nicht nur eines Samples von Sweet Home Alabama, sondern auch zahlreicher anderer Songs. Kid Rock besingt seinen Jugendsommer 1989 voller Sex und Drogen. Da war er selber 17. Die Zukunft war 2007 bereits abgesagt. Das Erfolgsrezept – „weltbekannte Melodie, neu gerahmt“ – wurde in den Folgesommern immer wieder genutzt. All Summer Long macht keine Verheißungen, sondern feiert ein „besseres“ Früher mit den Klängen von früher. Es ist der Hit für die Millennial-Generation, die nichts zu erwarten hat, erst recht keine echte Veränderung. Konstantin Nowotny
C
Coup de Boule Vor 15 Jahren sah ich seinen Kopfstoß im Finale der Weltmeisterschaft. Es war sein letztes Spiel. Der Sommer war heiß. Ich saß in einem Café in Berlin, das Spiel war nicht entschieden. Dann ging er traurig und mit gesenktem Kopf vom Platz und lähmte ganz Frankreich. Und mich auch. Das Spiel war verloren. Am nächsten Tag gab Zinédine Zidane ein Interview und wirkte seltsam im Reinen mit sich. Unrühmlicher Abgang? Die Italiener warfen sich heulend ins Gras, elende Betrüger, Materazzi, che stronzo. Nach wenigen Tagen, Zizou war längst fort, hörten wir in den Straßen Berlins diesen Song: „Zidane il l’a tapé / Zidane il l’a frappé, Zidane il l’a tapé, coup de boule.“ Das Lied von La Plage war aus dem Boden geschossen wie ein neuer Lieferservice. Die Party ging weiter, die Leute sangen, tanzten, feierten Zidane, den heiligen Sünder. Coup de Boule verbreitete sich rasant im Netz, löste die Lähmung (➝ Freistellung), eroberte Platz 1 der französischen Charts. In Italien kam es, sensazione, auf Platz 2. Maxi Leinkauf
F
Freistellung Den Marketingjob bei einer Fernsehproduktion hatte ich nur angenommen, weil ich mir infantil beweisen wollte, dass ich ihn kriege, um dann intensiv zu fühlen, dass es das Letzte ist, was ich will – ein Paradox, das der Psychiater und Schriftsteller Jakob Hein in seinem Buch Hypochonder leben länger heiter erklärt, aber das führt jetzt zu weit. Ein glamouröser Abgang (➝ Coup de Boule) mit Pauken und Trompeten war es nicht, immerhin, am Ausgang war ich noch gestoppt worden, denn ich trug filmreif meine Kontakte-Rollkartei unter dem Arm, mithin aus der Firma. Schon Wochen vorher hatte die Sekretärin Mandy – sie hieß wirklich so –, deren Rechtschreibfehler ich immer diskret korrigiert hatte, das Namensschild meines Postfachs entfernt, die schielende Michaela, Fahrerin eines dümmlichen Cabrios, mit Mandy gegen mich intrigiert. Der Chef selbst saß auf wackeligem Posten, er hatte die beiden nur angeheuert, so meine Theorie, um sich zu stabilisieren.
Frei. Freiheit. Freistellung, es war eine mit „goldenem Handschlag“, also Geld. Ich stieg ins Auto, im Radio lief Summer Son von Texas. 1999. Es wurde der Hit meines Sommers. Durchaus möglich, dass es auch der Song der Mädels wurde. Egal. I’m over you. Katharina Schmitz
H
Hochstand „One, two, three o’clock, four o’clock, rock“ – der Gitarrist unserer Schulband spielte sich die Finger wund, und nachher ging ich mit ihm spazieren. Von Wäldern und ehrwürdiger Tradition umgeben war das Internat in den Thüringer Bergen, dem ich nicht nur meine Russischkenntnisse verdanke. Samstags läutete die Schulglocke zum „Ringelpiez“ im „Clubraum“. Im Sommer tanzten wir unter freiem Himmel Rock ’n’ Roll, der eigentlich längst aus der Mode war. Beinahe wäre es damit zu Ende gewesen, weil Schüler in trunkenem Übermut einen Hochstand im Wald beschädigt hatten, wofür der Direktor die „Westmusik“ verantwortlich machte. „Rock & Roll Music“ war nicht unterzukriegen. Aber die Internatsoberschule wurde 1991 geschlossen. Für uns war sie kostenlos. Wer hätte künftig im Osten das nötige Schulgeld aufbringen sollen? Irmtraud Gutschke
I
Italien Ein Sommerhit muss ja noch lange kein Song sein: Den Sommer 1990 verbrachte ich auf Ischia bei Menschen mit Marmortreppen, die sie zu Hause hatten. Blick über den Hafen und Gärten mit in den Himmel wuchernden Ranken. Es wirkte wie ein Paradies, in dem es auch noch Eisbomben von der Bar Calise (Tipp!) gab. Auch gab es Männer, die in Bars auf Bildschirme starrten und die Männer in weißen Trikots mit Deutschlandflagge anfeuerten. Sie hatten keinen Blick für die eigentliche Melange dieses Sommers. Jan C. Behmann
K
Kebekus feat. Lauterbach Als 2018 aus dem Radio immer wieder Bella Ciao wie ein metallischer Befehl aus dem Lautsprecher trötete, tat mir eine Freundin meiner Freundin etwas leid: Ihr klebte dieser Sommerhit namensbedingt wie ein Kaugummi an der Sandalette. Aber schlimmer geht es immer. Erinnern Sie sich noch an Ai Se Eu Te Pego? Genau. Nun fühlt sich das „Duo“ Kebekus und Lauterbach berufen, einen selbstironischen Sommerhit zu lancieren: La Vida sin Corona (Der Sommer wird gut). Die Klickzahlen schnellen antiproportional zu den Hirnzellen der Rezipienten hinauf. Eine Persiflage? Mir sind Trends fremd. Ich lehne sie ab. Diesem öffentlich-rechtlichen Unsinn haftet etwas sehr Deutsch-Sandalenartiges an: Stillosigkeit. Jan C. Behmann
L
Lambada Es gibt so einige apokryphe Theorien zum Niedergang des Eisernen Vorhangs im Herbst 1989, die schönste davon lautet: Es war der Lambada. Der weltweite Sommerhit aus Brasilien, der sich später als Plagiat herausstellte (heute würde man stolz Remix sagen), tanzte mit seinem ansteckenden Rhythmus die Trennlinie zwischen Ost und West einfach nieder. Im Sommer darauf, der eigentlich ein italienischer werden sollte (Un’Estate Italiana war die offizielle WM-Hymne), feierte der Lambada eines der schönsten Comebacks der Sommerhit-Geschichte, als ein Kameruner Fußballspieler namens Roger Milla nach seinem 1:0 gegen ein favorisiertes Rumänien zur Eckfahne eilte, um dort jubelnd die Hüften zu schwingen. Angeblich hatte ihn der Präsident Kameruns höchstselbst aus dem Ruhestand holen lassen, um den „unzähmbaren Löwen“ bei der Fußball-WM zu Ruhm zu verhelfen. „Lambada-Milla“ enttäuschte nicht: Dank seiner Tore und Tänze kam Kamerun bis ins Viertelfinale. Barbara Schweizerhof
P
Punk Mitte der 1980er fuhren wir vom niederbayerischen Straubing aus mit einem guten Dutzend Punks zum Bierfest in ein nahe gelegenes Dorf. Einer kannte denjenigen, der dort Sonntagmittag für die Beschallung des um diese Zeit leeren Bierzelts zuständig war. In jenem Sommer mit viel Bier, Kiff, Punkmusik und Wackersdorfer Bauzaunschlachten tobten wir uns im Bierzelt zu Holidays in the Sun von den Sex Pistols Pogo tanzend aus. Den Text verstanden wir nicht, aber im stampfenden Rhythmus des Liedes ließen wir unsere Springerstiefel fliegen, Körper krachten aneinander und bunte Haare leuchteten im hereinfallenden Sonnenlicht, während uns die Dörfler mehr als misstrauisch beobachteten.
Wir fanden den Song eigentlich abgeschmackt, aber in einem leeren Bierzelt dazu Pogo tanzen mitten im Feindesland?Es kam, wie es kommen musste. Die Dorfjugend verteidigte Fäuste schwingend ihr Revier. Nur einer von uns hatte eine blutige Nase, als wir es gerade noch zu den Autos schafften, immer noch den Song im Ohr. Florian Schmid
S
Sunny „Sunniiiieee“: Wehmütig für die einen, wehleidig für die anderen dehnt sich im Dauerbrenner Sunny der Refrain ins Endlose. Dass es im Lied des One-Hit-Wonders Bobby Hebb von 1965 eigentlich um den Tod seines Bruders und das Fehlen von Sonnenschein geht, wissen die wenigsten. Denn es kursieren etliche Cover des ursprünglich in Moll komponierten Soul-Songs mit teils fröhlicherer Stimmung. Wikipedia gibt die Zahl 171 an – stimmt nur die Hälfte, wäre das enorm. Zum Beispiel schlug die Disco-Version von Boney M. ein, mehr Partylied als Totenklage. Sonny & Cher sangen das Stück, Frank Sinatra, Duke Ellington, Stevie Wonder und Ella Fitzgerald. Im Frühjahr 2020 wohnte ein Millionenpublikum der „Sunny“-Interpretation von Billie Eillish beim Wohltätigkeits-Streaming „Together at Home“ bei. Die Inflation der Cover trägt Schuld daran, dass manche den Song einfach nicht mehr hören können (der Autor eingeschlossen).
Ihren ganz eigenen „Sommer-Hit“ landete Renate Krößner im DEFA-Film „Solo Sunny“. Als tingelnde Sängerin Ingrid Sommer präsentierte sie das gleichnamige Lied. Für ihre Rolle erhielt sie auf der Berlinale 1980 den Silbernen Bären. Geschrieben – und eigentlich gesungen – hat den Song Regine Dobberschütz, die damit wie Bobby Hebb ihren größten Erfolg feierte. Auch hier geht es nur vermeintlich um sonniges Wetter. „Blue – the dawn is growing blue / A Dream is coming true / When you will come away / Some sweet day.“ Tobias Prüwer
V
Versionen Ein Evergreen, von Billy Wilder im Film Eins, Zwei, Drei verwendet: Brian Hylands Itsy Bitsy Teenie Weenie Yellow Polka Dot Bikini. Der Hit löste 1960 in den USA den Bikini-Hype aus. Ganz im Mowtown-Stil von Marvin Gaye und Tammi Terrell erschien der Ohrwurm Don’t Go Breaking My Heart, ein Duett von Elton John mit Kiki Lee, das John nach 1977 immer mal wieder neu einspielte. In den 1960ern komponierten Maurice Williams and the Zodiacs Stay (Just a Little Bit Longer), in der Langversion von Jackson Browne war der Song weit über das Jahr 1978 populär – das hatte vor allen Dingen mit dem Soundtrack zum Tanzfilm Dirty Dancing (➝ Zeltplatzkino) zu tun, der für einen Run auf Tanzschulen sorgte. Und mit der schnelleren Version von Cindy Lauper, die im Jahr 2003 auf ihrem Album At Last erschienen ist. Georg Danzer schrieb einen deutschen Text zu dem Lied, das er „Roadie-Song“ nannte, sein Geschenk an die Techniker, Tonleute, Beleuchter. „Es ist so schoad, dass die Tour jetzt vorbei ist ...“ Helena Neumann
Z
Zeltplatzkino Ich hatte mich 1989 (➝ Lambada) nach meinem ersten Studienjahr für einen Sommerjob als Betreuerin in einem Kinderferienlager auf der Insel Usedom eingeschrieben. Selbst gerade erst volljährig geworden, bekam ich eine Gruppe vierzehnjähriger Mädchen in meine Obhut. Dieser Sommer war flirrend heiß. Ein Jahr nach Filmstart im Westen kam Dirty Dancing auch in der DDR in die Kinos. Jeden Abend musste ich mit den Teenagern ins Zeltplatzkino und die Geschichte von Baby und Johnny wieder und wieder anschauen. Solange, bis alle mehrmals am Tag „eine Wassermelone getragen“ hatten und Time of My Life sicher draufhatten. Auch ich natürlich: Kollateralschaden. Elke Allenstein
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