Sommerloch-Schlussverkauf

Dem subventionierten Gebiss hinterher geworfen SPD-Generalsekretär Olaf Scholz entsorgt den "Demokratischen Sozialismus"

Der Generalsekretär der SPD, Olaf Scholz, hat dem stern mitgeteilt, dass in der Bundesrepublik in den vergangenen Jahrzehnten eine gewaltige Umverteilung von oben nach unten stattgefunden habe, die jetzt revidiert werden müsse. Der Begriff Demokratischer Sozialismus werde in Zukunft "nur eine geringe Aussagequalität" haben.

Was er mit der Umverteilung gemeint hat, sagt Scholz nicht. Vielleicht dies: Es hat einmal eine Zeit gegeben, in der die Reichen in der Bundesrepublik reicher und die Armen etwas wohlhabender wurden. Dies geschah bis zirka 1974/75. Das war aber keine Umverteilung, denn der Abstand zwischen Oben und Unten blieb auch in diesem "Goldenen Zeitalter des Kapitalismus" bestenfalls unverändert, vielleicht ist er sogar auch damals größer geworden.

Es waren ganz einfach Jahre, in denen das Sozialprodukt kontinuierlich wuchs: von 1948 bis 1966 und danach, nach einer kleinen Delle, noch einmal bis Mitte der siebziger Jahre. Der Kuchen war größer geworden, das je einzelne Stück ebenfalls.

Auch nach 1974 ist das Sozialprodukt nicht ständig geschrumpft, sondern nur langsamer gewachsen. Allerdings fand da zugleich eine Umverteilung statt, jedoch nicht von Oben nach Unten, sondern umgekehrt. Die Gewinne stiegen weiter und wurden teilweise gar nicht mehr in die Produktion investiert, sondern spekulativ verjuxt. Unten begann die Massenarbeitslosigkeit. Wenn Olaf Scholz eine solche Entwicklung jetzt einleiten will, dann kommt er 30 Jahre zu spät.

Aber er meint ja etwas anderes: nicht das Verhältnis von Arm und Reich, sondern die staatlichen Infrastrukturleistungen und die Sozialsysteme. Beide wurden in der Vergangenheit ausgebaut und sollen jetzt, geht es nach Westerwelle und ihm, zurückgefahren werden. Doch diese Umverteilung, die Scholz in der Vergangenheit wahrgenommen haben will, hat damals gar nicht von Oben nach Unten, also vertikal, stattgefunden, sondern horizontal. 1957 ist in der Rente das Versicherungsprinzip (Bismarck) durch das Umlageverfahren (Adenauer) abgelöst worden: die berufsaktive Generation zahlte an die Alten. Auch die Arbeitgeber hatten beizutragen ("Lohnnebenkosten"), aber das war nicht neu. Das mussten sie nach dem älteren, dem Versicherungsprinzip auch.

Die staatliche und kommunale Infrastruktur (Schwimmbäder, Schulen, Autobahnen, BAFÖG) wurde aus Steuern finanziert, die nicht nur oben gezahlt wurden. Ihre Progression war in der BRD nie sehr hoch, der Umverteilungs-Effekt also gering.

Mit Demokratischem Sozialismus hatte das Goldene Zeitalter 1948-1974 ebenso wenig zu tun wie mit der Erfindung der staatlichen Krankenversicherung 1883 und der umlagefinanzierten Rente. Bismarck war ein Junker, und Adenauer war in der CDU.

Das Adjektiv "demokratisch" kam als Zusatz zum Sozialismus in Gebrauch, als die Sozialdemokratie es nötig hatte, sich gegen Konkurrenz von links zu wehren. Zaghaft tauchte die Formel in den zwanziger Jahren auf, um den Unterschied zum Bolschewismus zu markieren, und sie wurde im Kalten Krieg gewaltig eingesetzt, als gezeigt werden sollte, zu welchem Lager die SPD gehörte. Nachdem der kommunistische Feind weg ist, wird der alte Kampfbegriff nicht mehr gebraucht.

Warum geschah das erst jetzt und nicht bereits 1989?

Antwort: Indem Scholz dem Demokratischen Sozialismus das subventionierte Gebiss gleich hinterher wirft, opfert er nicht nur einen begrifflichen Ladenhüter, sondern etwas Wichtigeres: den Sozialstaat in seiner bisherigen Form. Das meint er sich leisten zu können, denn seit der rot-roten Koalition in Berlin, dem Bundestagswahlergebnis 2002, dem Scheitern des Mitgliederbegehrens in der SPD und dem Einknicken des DGB 2003 glaubt er sicher zu sein, dass zur Zeit niemand auftreten wird, um links das Feld zu besetzen, das er zugunsten der Neuen Mitte aufgibt.

Die im Frühjahr angekündigte Zerreißprobe ist ausgefallen. Sie kann dort begraben werden, wo auch sonst nichts ist: im Sommerloch.

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