Sommerzeit: Jetzt fehlt mir das Verliebtsein

Kolumne Verlieben? Nein, danke. Oder doch vielleicht nächsten Sommer wieder?
Ausgabe 34/2022

Vor einem Jahr: Ich liege auf dem Balkonboden in der Mittagssonne, meine Augen sind geschlossen. Die Luft ist mit Blütenduft aufgeladen, und das Atmen fällt mir schwer. Der Schatten der Oleanderblätter bedeckt mich wie ein Ganzkörper-Tattoo. Falls mein Körper sich bewegt, tut er es in Zeitlupe. Nur mein Herz rast. Ich habe nicht gekifft und keine anderen Drogen genommen. Ich bin frisch verliebt. Nach langer Zeit wieder.

Mein Handy ist wie eine Erweiterung meines linken Ohrs, mit der ich ihre raue Stimme vier Stunden lang hören kann, ohne davon müde zu werden. Wäre das Telefon Festnetz, würde ich mit dem Kabel zwischen den Zehen spielen. Mit dem rechten Ohr lausche ich dem Gezwitscher im Hinterhofbaum, wo die Vögel sich zu dieser Jahreszeit gerne aufhalten.

Ich befinde mich fast 24 Stunden am Tag in diesem Zustand. Ich warte nur aufs nächste Telefonat, zähle die Tage und Stunden bis zum Wochenende, damit wir die Kilometer, die uns trennen, hinter uns lassen können. Um die Zeit zu überbrücken, erledige ich, was zu erledigen ist, im Autopilot-Modus.

Drei Monate später geht es mir weiterhin so, nur die Gründe dafür sind andere: Der Sommer ist vorbei, die Liebe auch. Alles um mich herum ist grau und rau. Es tut überall weh. „Neben dem Tod ist Liebeskummer das Schlimmste“, sagt eine Freundin. Sie wünscht mir trotzdem, dass ich mich noch mal verliebe. „Nie wieder“, antworte ich und meine das ernst, auch wenn sie mir nicht glauben mag.

Nie wieder leiden, sage ich mir damals und fange an, die romantische Liebe zu hinterfragen. Ich weiß natürlich, dass Sozialisierung, Patriarchat und Kapitalismus unser Erlebnis der Liebe beeinflussen, jedoch wollte ich mich bisher nie persönlich damit auseinandersetzen – warum Liebesbeziehungen in Frage stellen? Ich liebe Liebesgeschichten am allermeisten.

Je tragischer die Geschichte, desto besser. Denn eines muss ich zugeben: Ich habe gerne aus Liebe gelitten. Mit einem ähnlichen Genuss wie dem, mit dem man bei einem Film weint oder sich ein trauriges Lied anhört. Warum gibt es das Wort „Leidenslust“ nicht? Und was ist mit „Leidensrausch“? Leidenschaft kommt es schon nahe. Lebenslang habe ich gelernt, dass Frauen leidenschaftlich lieben, also, dass sie viel leiden dabei. Und so tat ich es auch.

Ich schrieb unendliche Liebesbriefe, ohne Antworten zu erhalten. Platonisch verliebte ich mich in Cousinen und Freund*innen, Professor*innen und Stars. Auf platonischer Ebene erlebte ich die intensivsten Liebesräusche. Wenn mich jemand fragte, warum ich so strahlte, war es für mich das schönste Kompliment überhaupt.

Ein Jahr und viele Lektüren später sehe ich das mit der romantischen Liebe anders. Ich bin wieder auf dem Balkon, vor der gleichen Kulisse. Nur sitze ich auf einem Liegestuhl, der Oleanderbaum ist hinter mir. Es ist wieder Sommer. Ich höre die Vögel und meine Nachbarn, ein junges Pärchen, beim Frühstücken. Gestern Abend hörte ich sie stöhnen, gerade sind sie am Streiten. Es geht um eine andere Frau, sie heult. Er entschuldigt sich, sie versöhnen sich und planen das Wochenende. Ich frage mich, ob ich mich nach einem solchen Alltag sehne. Nein, das nicht.

Was ich vermisse, ist das Verliebtsein. Ein Jahr später weiß ich noch genau, wie sich das angefühlt hat: Ich war so glücklich, die Welt hätte untergehen und ich sterben können. Es hätte mir nichts ausgemacht. Oder, wie es die kanadische Sängerin Michelle Gurevich beschreibt: „Give me the first six months of love“ – gib mir nur den Liebesrausch.

Luciana Ferrando schreibt über dies und das im Berliner Stadtleben – und ist hin und wieder als Buchhändlerin tätig

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