Sonnenbrille

A–Z Noch dem ödesten, verschlafensten Gesicht kann sie einen Hauch von Glamour und Geheimnis verschaffen. Unser Wochenlexikon rückt die Sonnenbrille ins rechte Licht
Ausgabe 30/2018
Sonnenbrille

Foto: Bettmann/Getty Images

A

Appeasement Als Willy Brandt und Leonid Breschnew sich nach Abschluss der Ostverträge 1971 mit Sonnenbrille zeigten, verliehen sie der Entspannungspolitik Ausdruck. In der BRD kritisierte man die schwache Appeasement-Strategie.

Cool wollte John F. Kennedy wirken. Berlusconi entschuldigte seine Sonnenbrille mit Augenleiden, Putin muss nichts erklären: Er ist ganz Mann. Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi, mangelnder Härte gänzlich unverdächtig, schirmte sich in den 42 Jahren, die er das Land beherrschte (Tonton Macoute), zunehmend hinter XXL-Gläsern ab.

Auch Joschka Fischer stand kein Kuschelkurs im Sinn bei seiner Bundestagsrede 1983. Sein sonnenbebrilltes Gesicht strahlte kecken Stolz über die vermeintliche, zur Schau gestellte Unkonventionalität aus; Fischer stand für Rock’n’Roll und Mackertum. Es dauerte ja noch einige Jahre, bis er sein Appeasement mit dem System und den Verhältnissen fand . Tobias Prüwer

G

Gesichtsschleier Nikab, Burka, pah! In meinem Land wären Spiegelbrillen verboten. Ich bin da bei Maizière: Gesicht kommt von Gesehenwerden. Watching me watching you ist gleich Zivilisationsgrundlage. „Niemand ist Mensch, sieht nicht ein anderer sein Gesicht,“ sagt der Philosoph, den ich mir grad ausgedacht habe. Ein kluger Mann! Niemals trug er Spiegelsonnenbrillen. Er wollte die Welt immer reinlassen. Ranlassen. Spiegeln ist schlimmer als Schleiern. Glotz dich doch selbst an! Was guckst du, hm! Was guckst du! Die Totalreflexion ist Provokation im Gehen, im Stehen: Die Spiegelbrille ist der Angriffskrieg des kleinen Mannes.

Nur manchmal versteckt er seine übermüdeten Äuglein dahinter. Ehe das klar wird, hab ich dem Scheißkerl schon längst eine reingesemmelt (Lagerfeld, Karl), rein prophylaktisch. Klaus Ungerer

H

Hochklappdinger Coolsein und minus sieben Dioptrien sind natürliche Feinde. Nicht nur dass ich mir unfreiwillig ein teures Handicap zugelegt hatte, meine Street-Credibility war hin, seit ich neun Jahre alt war, dank einer Brille mit sehr dicken Gläsern. Hinzu kam: Meine Eltern hatten weder das Geld für ein für Abwechslung im Gesicht sorgendes Zweitgestell noch für eine sowohl coole, als auch geschliffene Sonnenbrille. So griff ich – widerwillig zwar – zu einem dieser lächerlichen Klappgestelle (Gesichtsschleier), die man auf die normale Brille draufsteckt und bei Bedarf hoch- und runterklappen kann. Hoch geklappt sieht man dann aus wie Mickey Mouse, der die Ohren ins Gesicht gerutscht sind. Runter geklappt ähnlich deppert, weil die Formen der beiden Brillen selten übereinstimmten und immer irgendwo was überstand.

Zu Anfang hab ich mir das noch schöngeredet: wie praktisch das doch sei. Aber immer häufiger hab ich einfach die Augen zugekniffen und in die Sonne geblinzelt. Seit meiner Laser-OP vor ein paar Jahren kaufe ich nun coole Sonnenbrillen im Dutzend. Elke Allenstein

J

Jackie O Ihre Ikonen erkennt man am „Signature Look“, der über die Jahre kaum variiert. Ende der 1960er ließ Jacqueline Kennedy nach der Heirat mit dem griechischen Reeder Aristoteles Onassis Sonnenbrillen zum Schutz vor Paparazzi entwerfen. Die runden, ovalen, mal eckigen aus Schildpatt oder Kunststoff gefertigten XL-Brillen sind heute allgemein als „Jackie Os“ erhältlich. Absolute Stiltrophäe unter den Accessoires ist die von François Pinton designte schwarze Spa 2 mit ovalen Gläsern. Welche Ironie! Die Fotos Ron Galellas, gegen die Jackie O. vor Gericht zog und mit denen der „König der Paparazzi“ die Sensationspresse zur Kunstform erhob, tragen zu ihrem Mythos bei. Helena Neumann

L

Lagerfeld, Karl In der gemeinen Bevölkerung dient die Sonnenbrille dazu, die Augen vor UV-Licht zu schützen. Der Fall Lagerfeld ist anders. Haben Sie ihn schon mal ohne Sonnenbrille gesehen? Nein. Das kommt aber nicht daher, dass der Mann etwa eine seltene Augenkrankheit hat. Er will nur schützen, was ihm heilig ist, und das ist bei einem der größten Designer der Welt sein Augenlicht. Die Legende geht so: In einem Nachtklub wurde er Opfer eines Liebestrunkenen. Ein eifersüchtiger Knilch attackierte den jungen Kaiser Karl mit einem Glas. Der trug zufälligerweise eine Brille, von da an wollte er nie mehr ohne sein. Das Markenzeichen war geboren. Marlene Brey

R

Ray-Ban Aviator Vom Hummer-Jeep bis zur Safariweste sind viele Accessoires wegen der Abenteuersymbolik attraktiv für die gemeine Bevölkerung. Weder wird die engagierte Elternschaft, nachdem sie ihre Sprösslinge zur Schule gefahren hat, mit dem Hummer in einem Krisenherd eingreifen, noch pirschen sich die Mittsechziger in ihren Safariweste jemals an die „Big Five“ heran. Es reicht aus, in der Verkleidung des Traums Teil von ihm zu werden. Auch ich stolziere bei gutem Wetter mit dem Insignium eines sich in der ganzen Welt heimisch fühlenden Abenteurers durch die Gegend: Meine Ray-Ban Aviator steht mir ausgezeichnet, obwohl die Überantwortung eines Fluggeräts in meine Hände unweigerlich zu einer Katastrophe führen würde.

Hier hat die Brille jedoch eine Verbindung zu dem, was sie evoziert: Als mein Film 1/2 Miete (2002) weltweit zu Festivals eingeladen wurde, reichte die Flugbonuspunktezahl danach genau für die Aviator aus. Sie ist damit Symbol (Veilchen) meiner hochfliegenden Träume, Filmregisseur zu sein. Marc Ottiker

Richard, Pierre Irgendeinen – er soll sich irgendeinen aus der Menge raussuchen, sagt Toulouse zu seinem Gehilfen Perrache. Toulouse, steif, mit Schnurrbart und dunklem Anzug, ist nichts Geringeres als französischer Geheimdienstchef (großartig: Jean Rochefort). Er will seinem übereifrigen Stellvertreter (nicht minder klasse: Bernard Blier, den man aus Filmen mit Louis de Funès kennt) eine auswischen, weil dieser am Sessel seines Chefs sägt.

Also fährt Perrache zum Flughafen Orly und fischt sich aus der Menge der ankommenden Passagiere ausgerechnet den ziemlich zerstreuten François Perrin, Geiger eines Pariser Orchesters, raus. Es ist Pierre Richards Paraderolle. Ahnungslos führt er Milan in die Irre, was so einige das Leben kosten wird. Yves Roberts herrliche Agentenparodie Der große Blonde mit dem schwarzen Schuh (1972) wird zwei Jahre später mit der Der Große Blonde kehrt zurück weitergesponnen. Hier wird Perrin erneut in interne Machtkämpfe verwickelt und muss den fiedelnden Agenten mimen – mit Sonnenbrille (Veilchen), Lederschuhen und Geigenkasten. Behrang Samsami

T

Tonton Macoute Haitis Geheimpolizei verrichtete unter den beiden Diktatoren François Duvalier (Papa Doc) und dessen Sohn Jean Claude (Baby Doc) ihr blutiges Handwerk. Der Name Tonton Macoute bedeutet so viel wie „Onkel Plumpsack“, eine Gruselgestalt, die kleine Kinder in den Sack (macoute) steckt und entführt.

Die Angehörigen dieser Miliz trugen Tag und Nacht Sonnenbrillen. Anonym und getarnt verbreiteten sie Angst und Schrecken. Sie mordeten die Gegner der Duvalier-Diktatur mit Macheten, stellten ihre verstümmelten Opfer öffentlich aus. In Graham Greenes Roman Die Stunde der Komödianten (1966) spielen sie eine wichtige Rolle. 1986 endete die Diktatur der Duvaliers. Die Tonton Macoute löste sich auf. Magda Geisler

V

Veilchen Filmszenen, in denen einer zur Tarnung der blauen Blessur am Auge eine Sonnenbrille trägt, sind meist ganz lustig. Eine Auseinandersetzung hat die Fäuste erreicht, ein Kontrahent kam mit einem blauen Auge davon. „Es war ein herzig Veilchen“ trällert manch Goethe- oder Mozart-Kenner dazu.

Bei Frauen können die Reaktionen ganz anders sein. Ich hatte vor vielen Jahren mal ein solches „Veilchen“ nach einer Grauer-Star-Operation und trug deshalb eine Sonnenbrille (Jackie O). Als ich sie mir in einem Geschäft gedankenverloren hochschob, um eine Ware zu begutachten, traf mich ein mitleidiger, befremdeter Blick des Verkäufers. „Was ist das für ein Milieu?“, schien der Blick zu sagen. „Was sind das für Verhältnisse, in denen solche Zeichen entstehen?“ Ich kann mich ja auch getäuscht haben. Aber eine Frau mit blauem Auge, das weckt vor allem Irritation. Magda Geisler

Verlust Der Verlust der Sonnenbrille verfolgt uns, die wir das Zerstreute in den Genen mit uns herumschleppen wie Sisyphos seinen Stein, einem Schatten gleich, der uns bedeutet: Lass sie besser zu Hause (aber auch da ist sie nicht sicher!).

Seit vielen Jahren trage ich den ➝ Ray-Ban-Klassiker, und seit Jahren verliere ich einmal pro Jahr diese Brille. Ich lasse sie auf dem Autodach liegen oder im ungemähten Gras, in das ich sie gelegt habe. Kann man wirklich so blöd sein? Ja, man kann. Aber man muss damit leben lernen. Und so geht das bei mir, streng ökonomisch: Der Verlust einer „Pilotenbrille“ ist in meinem Jahreshaushaltsplan einkalkuliert. Als ich letzten Sommer die Brille auf Sizilien verloren habe, und beim Optiker in Syracusa eine neue für rund 80 Euro erstanden habe, hatte ich somit über 40 Euro Reingewinn. Michael Angele

W

Warenkunde Sonnenbrillen werden einem überall hinterhergeworfen, nicht alle erfüllen ihren Zweck, also den Schutz vor ultraviolettem Licht. Im Kapitalismus ist der Coolnessfaktor„Sunglasses at Night“ (➝ Zehnter Riesling) nur eine Surplusleistung, bei Tag sollten Sonnenbrillen einfach schützen, sonst drohen Hornhautverkrümmung, Grauer Star und Krebs.

Eine Sonnenbrille muss eng am Auge liegen. Das CE-Zeichen deckt nicht alle UV-Wellenlängen garantiert ab. Besser sind Brillen mit dem Zusatz UV400, auf Nummer sicher geht man besonders beim Optiker. Die Tönungstiefe sagt nichts über den UV-Schutz aus, deshalb empfehlen die Verbraucherschützer die Kategorie 3 (KAT 3). Während Gläser in Blau, Rot, Orange oder Gelb angenehm sein können, etwa weil sie beim Sport in der Natur einen starken Grünkontrast erzeugen, sollte man sie nicht beim Autofahren tragen. Braun- und Grautönungen hingegen verfälschen die Farben von Schildern und Signalen nicht. Tobias Prüwer

Z

Zehnter Riesling Nicht alle Klischees stimmen, doch zwischen den Bankentürmen in Frankfurt treffen sie öfter zu. Nach den aus Sylt importierten hochgeklappten Polohemdkragen kam die Inflation der Sonnenbrillen. Statt Sonnenschutz zu sein, sind sie zu einer Kontaktbarriere verkommen, zu einem Statement des Seins und des Habens. Auch Säuglinge tragen Luxusmodelle.

Die Brille ist ein Puzzleteil der non-verbalen Statuskommunikation, die einer dauerhaften Zurschaustellung bedarf. Man kann nämlich nicht immer bewusst ordnungswidrig mit dem Range Rover direkt vorm Café parken. So wird die Sonnenbrille, bar jeder Vernunft, getragen, auch wenn das bedeutet, nach dem zehnten Riesling die Stufe zum Café nur noch stürzend (Richard, Pierre) zu nehmen. Absturz eines Bankers – aber bitte modisch! Jan C. Behmann

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