Sonntagsruhe

A–Z Heimat-Chef Seehofer meint, das Abendland hänge von ihm ab, in Wahrheit ist der Sonntag perfekt für einen Mord, pardon, einen Krimi oder: zum Kicken, findet der Platzwart
Ausgabe 13/2018

A

Arsen Es verlief friedlich, sein Leben mit der beherrschten, misstrauischen Erbin einer Pension nahe Cannes. Solange sie die Entscheidungen treffen konnte. „Er baute um sich und gegen Berthe eine Art Wall, gegen den sie unaufhörlich stieß.“ Da erscheint Ada, das neue Dienstmädchen. Er verfällt ihr. Während einer Autofahrt kommt ihm die Idee, wie er Berthe loswerden kann.

Akribisch gräbt sich der Held in sämtliche Werke über Giftmorde, die er in die Hände kriegt, er zweigt über längere Zeit kleine Dosen Arsen vom Rattengift ab, um sie seiner Frau an einem „Sonntag“ (Blutsonntag) ins Risotto zu mischen. Der Held in Georges Simenons gleichnamigem Roman von 1959 bereitet nüchtern und minutiös sein Verbrechen vor. Prägt sich alle Symptome ein: Magen- und Darmstörungen, Kehlkopfkatarrh, Bronchitis, Hautausschläge, Lähmung der unteren Gliedmaßen. Das Psychogramm endet mit einem Verhängnis. Sonntag ist ein wahrer Simenon. Maxi Leinkauf

B

Blutsonntag Am 22. Januar 1905 machen sich Zehntausende Arbeiter auf den Weg nach St. Petersburg, um für bessere Betriebsbedingungen, die Abschaffung der Zensur und die Schaffung einer Volksvertretung zu demonstrieren. Sie werden von Soldaten beschossen, die Zahlen der Todesopfer gehen weit auseinander, auf jeden Fall sind es über 100. Die Ereignisse gehen als „Petersburger Blutsonntag“ in die Geschichte ein, in der sich erschreckend viele „Blutsonntage“ finden. In Bozen etwa verbindet man damit einen faschistischen Gewaltexzess am 24. April 1921 mit einem Toten und vielen Schwerverletzten. In Nordirland meint „Blutsonntag“ den 30. Januar 1972. Damals schossen britische Soldaten auf die Teilnehmer einer Demonstration für Bürgerrechte in Derry. 13 Menschen starben, der Nordirland-Konflikt verschärfte sich. Die Liste ist länger. Benjamin Knödler

D

Degenhardt Deutscher Sonntag ist ein Lied des bekannten Liedermachers, Schriftstellers und Rechtsanwalts Franz Josef Degenhardt (1931 – 2011). Spiel nicht mit den Schmuddelkindern – das Lied, das der LP den Titel gab – ist ein heute noch gern verwendeter Spruch. Ein Freund mit Zugang zu „Westsachen“ hat sie uns geschenkt. In der DDR ist sie nicht erschienen, obwohl Degenhardt, der viele Jahre Mitglied der SPD war und später in die DKP eintrat, ein – wenngleich kritischer – Parteigänger des sozialistischen Experiments war. Oft war er beim „Festival des politischen Liedes“ (RIAS) zu Gast und wurde 1983 Mitglied der Akademie der Künste der DDR. Die Zeilen „Das ist dann genau die Zeit. Da frier’ ich vor Gemütlichkeit!“ kamen in der Familie öfter mal zum Einsatz, um einen bestimmten Gemütszustand zu beschreiben.

Wir diskutierten auch die Frage, wie sich Kleinbürgerlichkeiten und Spießertum unter „sozialistischen“ Verhältnissen künstlerisch widerspiegeln. Das gab es ja auch, aber da ging es weniger um Kirchgänge, Predigten oder Greise, die an die Schlacht von Sedan denken. Gab halt andere Rituale. Magda Geisler

F

Frühschoppen Erst mussten wir in die Kirche, unsere Mutter früher, weil sie danach schon den Sonntagsbraten ansetzte. Mein Vater ging danach zu „Bullebas“, so hieß die Kneipe im Dorf, der Wirt Theo. Als alter Mann wurde er schwerhörig, was ihn aber nicht davon abhielt, ans Wandtelefon zu gehen und sehr vornehm „Wie bitte??“ zu brüllen. Die Stolzens führten auch den Tante-Emma-Laden. Frau Stolz pflegte „Tschüss“ zu sagen, wenn man „Wiedersehen“ gesagt hatte, und „Wiedersehen“, wenn man „Tschüss“ gesagt hatte. Das war spannend. Nach dem Skat schaute ich mit meinem Vater den Internationalen Frühschoppen. Ich war vielleicht ... zehn? Das Interesse für Politik hat uns sehr verbunden. Katharina Schmitz

L

Langeweile Christoph Niemann ist eine der gebuchtesten Illustratoren der Welt. Niemann arbeitet für den New Yorker, die Zeit und das New York Times Magazine.

Sein Band Sunday Sketching (Knesebeck Verlag 2016) zeigt den Alltag mit seinem ganz normalen Aberwitz, da wird ein Mohnbrötchen zum Stoppelabart (siehe Illustration), da wird eine Muschel zur Badehose, ein Schlüsselbund zu einem Vogel, zwei Bananen zum Hintern eines Pferdes – oder ein Kopfhörerkabel zur Stechmücke. „Meine Bilder sollen nicht nur illustrieren“, sagt Niemann, vielleicht hat alles an einem dieser langweiligen Sonntage (Tocotronic) angefangen. Marc Peschke

N

Neorealismus Von seiner Sonnenseite zeigt sich der italienische Neorealismus in Domenica d’agosto – Luciano Emmers 1950 entstandenem Filmdebüt, in dem der ganz junge Marcello Mastroianni eine wunderbare, volkstümliche Rolle spielt. Ganz Rom zieht es an diesem heißen Augustsonntag an den Strand von Ostia. Sie kommen mit dem Fahrrad, mit Bussen oder glänzenden Autos: Arme und Reiche, Junge und Alte, Frauen und Männer, das Volk und die Vornehmen, die in Badehosen doch alle gleich sind.

Ein Sonntag im August ist eine Kino-Perle. Der Film zeigt uns ein lange vergangenes Italien, zeigt sonntägliche Freuden am Strand, er ist auch eine erstaunliche Gesellschaftsstudie, die der Guardian in einem Nachruf auf seinen Regisseur (1918 – 2009) als „bescheiden und lustig, von Leidenschaft erfüllt, ohne vulgär zu sein“ beschrieben hat. Die Poesie des Alltags ist es, die den Film noch heute sehenswert macht. Marc Peschke

O

Olympia Gleich zwei Menschen profitierten von Eric Liddells religiösen Gefühlen. Der schottische Leichtathlet, tiefgläubiger Christ, weigerte sich bei den Olympischen Sommerspielen 1924, am 100-Meter-Lauf teilzunehmen. Der Vorlauf des Wettbewerbs fiel auf einen Sonntag. Der Favorit Liddell wollte das Ruhegebot wahren, wertete auch das olympische Amateurdabeisein als Arbeit. So konzentrierte er sich auf den 400-Meter-Lauf, auch wenn der nicht seine Spezialität war. Und wurde Sieger mit einer Zeit, die zwölf Jahre lang europäischer Rekord blieb.

Vielleicht half ihm das Vertrauen in Gott: Sein Teammasseur gab ihm kurz vor dem Rennen das Bibelzitat „Denn diejenigen, die mich ehren, werde ich ehren“ mit auf den Weg. Liddells Verzicht kam dem Briten Harold Abrahams zugute: Der Außenseiter im 100-Meter-Rennen wurde Erster. Dieses olympische Geschehen (Neorealismus) bildet die historische Grundlage der Verfilmung Die Stunde des Siegers. Tobias Prüwer

P

Platzwart „Kicker und Kirchen entsetzt: Fußball an Ostern?“, titelte einmal ein Portal für Amateurfußball. Sport am Ostersonntag gefährde akut den feiertäglichen Frieden. Doch eigentlich gibt erst der Sportplatz mit seinen Ritualen dem Sonntag seine friedliche Aura. Die verkaterten Spieler der A-Jugend, die sich den Suff des letzten Abends beim Aufwärmen herauslaufen, während die F-Jugend-Spieler über den Platz rasen. Die Vereinsoffiziellen, die Kuchen verkaufen und später den Grill anschmeißen. Und natürlich der Platzwart, der in aller Herrgottsfrühe leidlich gerade Linien mit dem Kreidewagen gezogen hat und den Rest des Tages damit verbringt, Schiedsrichter und gegnerische Spieler unflätigst zu beschimpfen (Zernichten). Benjamin Knödler

R

RIAS Hans Rosenthal (1925 – 1987) war der erste Moderator der RIAS-Sendung Das klingende Sonntagsrätsel, die 1965 zum ersten Mal ausgestrahlt wurde. Musikfragen führten zum Lösungswort, das man per Post einschicken konnte. Kleine Preise winkten auch. Rätselteilnehmer aus der DDR konnten an Deckadressen schreiben. Eigentlich – erklärte Rosenthal einmal – sei es darum gegangen, zu checken, ob und wie der RIAS HörerInnen-Ost erreichte. Nachdem der RIAS 1993 aufgelöst wurde, stand die Sendung oft „auf der Kippe“. Jetzt läuft sie bei Deutschlandradio sonntags ab 10.30 Uhr (Frühschoppen). So „versammeln“ sich noch immer die Leute – darunter auch wir – am Sonntag nach dem Frühstück, um gemeinsam der Einleitungsmusik zu lauschen und sich über Lösungen zu zanken. Magda Geisler

S

Sabbat Gott sah die Sechstagewoche vor, der siebte Tag sollte der Ruhe dienen. Der Tag, an dem dem Schöpfer zu danken ist, war der Sabbat. Konservative Juden tun samstags nichts, was als Arbeit gilt. Auch die Christen kennen das Sabbatgebot, lenkten es aber auf den nächsten Tag um. Das geschah auf dem Ersten Konzil von Nicäa. Im Jahr 325 kamen in der Nähe des heutigen Istanbul mehrere hundert Kleriker zusammen, um mit der Klärung religiöser Fragen, wie der Ausgestaltung des Osterfestes, die Einheit des Christentums herzustellen. Hier wurde auch die Verlegung des Ruhetages auf den Sonntag beschlossen, um sich vom Judentum abzugrenzen. Darum wohl pausieren Muslime am Freitag. Tobias Prüwer

T

Tocotronic Samstag ist Selbstmord. Die Klassenbesten der Hamburger Schule besangen schon 1995, was uns heute von Neon bis Flow die Zeitschriften predigen: Wir müssen raus aus der Freizeitfalle. Verwandtschaftsbesuche, Sportvereine, Kaffee und Kuchen, Flohmarkt, Ausgehzwang (Arsen), wir sind gezwungen durch alles, was man machen kann.

Bleibt der Sonntag. Der Sonntag ist der Tag, den man bestenfalls im Liegen verbringt. Im Schlafanzug die Zahnbürste ignoriert. Wer es sich leisten kann, sollte an diesem Tag schweigen. Oder das familiäre Umfeld dazu zwingen, nicht zu sprechen. Das Handy lautlos stellen. Dem Mail-Programm mit Ignoranz begegnen. Einfach keine To-do-Liste (Olympia)schreiben. Die Batterien für die kommenden sechs Tage laden sich so von ganz allein auf. Auch zum Sex braucht man sich dann nicht mehr zwischen Kirchgang und Tatort zu verabreden. Die meisten Kinder werden eh am Sonntag gezeugt. Hätten wir ihn nicht mehr, die Menschheit ginge zugrunde. Sarah Alberti

Z

Zernichten Als so überholt wie „zernichten“ – ein Kofferwort aus „vernichten“ und „zerstören“ – gilt die Sonntagsruhe. Zumindest glaubt das Horst Seehofer und befürchtet es die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Unser neuer Minister für Heimat und innere Emigration verweist auf das christliche Gebot, nicht an Gottes Ruhetag (➝ Sabbat) zu rühren. Der Sonntag gehöre dem Gottesdienst. Dass er mit dieser Auffassung letztlich die Trennung von Kirche und Staat unterläuft, stört Seehofer nicht.

Verdi hingegen setzt im Kampf gegen die Sonntagsarbeit auf Arbeitnehmerrechte. Am Sonntag soll möglichst jeder seine Ruhe haben – ob in der Kirche oder sonst wo. Übrigens ist „zernichten“ zurück: In der Jugendsprache soll es als hip gelten. Allerdings ist das Wort „Jugendsprache“ ebenso Erfindung der Altvorderen wie die Sonntagsruhe. Tobias Prüwer

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