Ein Blitz … Ein Lichtschwall … Aus … Nacht … Finsternis … Ich mache ein Auge auf, der Blick gleitet die Wand entlang. Wo bin ich? Im Lazarett. Weiter: Sind beide Arme dran? Ja. Ich taste weiter runter … Schluss … Ich bin so klein geworden … Alles klar: Beide Beine sind ab.“
An sehr vielen Stellen in Swetlana Alexijewitschs Buch findet man solche Punktierungen und Auslassungen. Sie sind der Mündlichkeit geschuldet. Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen ist, wie die anderen Werke der weißrussischen Schriftstellerin, ein in weiten Teilen gesprochenes Buch. Es gibt wieder, was ihr Menschen während vieler Reisen und Recherchen erzählt haben. Zinkjungen enthält hunderte kürzere Einlassungen von einfachen Soldaten
n Soldaten, Offizieren oder Sanitätskräften, die während des zehnjährigen Krieges der Sowjetunion in Afghanistan eingesetzt wurden; auch von Ehefrauen oder Müttern Gefallener. Die Punktierungen versuchen den seelischen Ausnahmezustand, in dem sich diese Menschen befinden, ihre Suche nach Worten, die das Erlebte und Durchlebte irgendwie fassen könnten, wiederzugeben. Dem Aussetzen der Sprache und der Suche nach Sprache wohnen wir bei. Oder anders: Man muss Swetlana Alexijewitsch mit den Ohren lesen.Ohne Kloschüssel kein LebenDie meisten Erzählungen in Zinkjungen handeln von jungen Menschen. Da ist zum Beispiel eine Frau, die ihrem grauen Leningrader Alltag entkommen wollte, aber auch helfen wollte, spüren, wie es ist, gebraucht zu werden. Dann, im Afghanistaneinsatz, sah sie endlos Schreiende mit zerfetzten Gliedmaßen, Gesichter ohne Augen, Menschenhaut, die bloß noch gelbe Kruste war. Helfen, das ging kaum. „Ein halber Eimer Fleisch“, sagt die Frau, „bleibt von denjenigen übrig, die auf eine Mine treten“. Für die Afghanen, die ihren Landsleuten diese Verletzungen zufügten, hatte sie nur noch Hass übrig. Aber auch für die eigenen Vorgesetzten, die sie gezwungen hatten, Verwundete auf ihre Gesinnung hin zu bespitzeln oder, in Briefen an Angehörige, Elend und Tod patriotisch zu verkitschen.Viele junge Männer meldeten sich freiwillig zum Kriegseinsatz – aus Neugierde. Wie fühlt sich das an, für Russland zu kämpfen, einem Feind gegenüberzustehen, wirklich zu schießen? In Afghanistan, dachten die Jungen, könne man ein paar Orden sammeln, Karriere machen. Einige sahen sich auf einer kulturellen Mission. „Ich habe ehrlich geglaubt“, sagt ein Militärberater, „dass eine Jurte schlechter ist als ein fünfstöckiges Haus, dass ein Leben ohne Kloschüssel kein Leben ist. Und wir haben sie mit Kloschüsseln überschüttet und ihnen Ziegelhäuser gebaut“. Dass in Afghanistan alles ganz anders kam, dass es grausamer wurde, schmutziger, als man es sich vorher ausgemalt hatte – das hatte dann jene Folgen, denen man in Zinkjungen andauernd begegnet: Durch den Afghanistaneinsatz gerieten selbst vorher gefestigte Persönlichkeiten vollkommen aus der Spur.Swetlana Alexijewitsch schrieb einmal, die Kunst hätte versagt, da sie viele Seiten der Menschen nicht kenne und verschweige. Eine etwas überhebliche Aussage, denkt man zunächst, vielleicht auch eine naive. Bis beim Lesen von Zinkjungen klar wird: Kein Wort aus Reden oder Romanen, keins der allgegenwärtigen Bilder von rollenden Panzern, Schießenden, Leichen hat das Spezifische des Kriegsalltags eingefangen. Der Afghanistankrieg zeigt sich vielmehr in dem, was in Zinkjungen zur Sprache kommt: in den Träumen der Beteiligten, in ihrem Zynismus und Hohnlachen gegenüber jeglichen Idealen, dem Schmerz, der ihre Erzählungen stocken lässt. „Wie soll ich jetzt leben?“, fragt einer der Russlandheimkehrer, „ich hab doch Lust am Töten gekriegt“. Krieg, man weiß es ja und erfährt es neu, lastet auf den Seelen noch viele Jahre nach seinem Ende.Ihr Fokus, sagt Alexijewitsch, liege nicht auf einem – historischen – Ereignis, eher auf den Haltungen, welche es hervorbringe; auf dem, wozu Menschen im Bösen wie im Guten fähig sind. Erstaunlich ist, in welchem Ausmaß die von der Schriftstellerin Interviewten von ihren Verstümmelungen und Leiden zu sprechen bereit sind. Vielleicht ist es tatsächlich so, wie Karl Schlögel anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2013 an Alexijewitsch angemerkt hat: Die Beteiligten wunderten sich, dass ihnen überhaupt jemand zuhört und sich für ihre Geschichte interessiert. Der Eindruck, dass Alexijewitsch als Schriftstellerin hinter das von anderen Gesagte zurücktritt, täuscht allerdings. Schließlich hat sie all diese Erzählungen bearbeitet, hat mittels der Montage Zusammenhänge zwischen den Berichten hergestellt. Zinkjungen gibt keine Eins-zu- eins-Realität wieder, es ist ein in höchstem Maße literarisiertes Buch. Alexijewitsch dichtet Geschichte.Nun könnte man mit einer etwas platten Medientheorie sagen, dass es sich auch bei solchen dokumentarischen Texten um „Wirklichkeit aus zweiter Hand“ handelt. Gewiss, Alexijewitsch bietet keinen historischen Überblick zum Krieg der Sowjetunion in Afghanistan – stattdessen lauter subjektive Momentaufnahmen aus dem Kriegsgeschehen, mit Absicht ohne Zusammenhang, denn gerade ihr krasses Nebeneinander kennzeichnet den Schrecken. Aber gerade weil Alexijewitsch so kleinteilig von Afghanistan erzählt, ist Zinkjungen wiederum präzise. Sie zoomt uns nahe heran. Und mehr noch: Die von der Schriftstellerin wiedergegebenen Zeugenberichte wirken wie der Chor in einer griechischen Tragödie, der, indem er Verdrängtes artikuliert, heroisierende Darstellungen unterläuft.Im Heimatland verbotenSwetlana Alexijewitsch ist zutiefst davon überzeugt, dass die offene Aussprache Menschen zusammenbringen kann, das Wort also eine heilende Kraft entfalten kann. Nur teilt das offizielle Weißrussland diese Auffassung nicht, in Alexijewitschs Heimatland sind ihre Schriften verboten. Schon dem vielgelobten Reportageband Zinkjungen, der noch zu Zeiten der UdSSR entstand, wurde der Prozess gemacht. Ein der Neuausgabe hinzugefügtes Kapitel zeichnet das akribisch nach. Es klagten sogar einige der Menschen, deren Erzählungen Alexijewitsch im Buch verwendet. Oleg Ljaschenko beispielsweise: Fünfzigtausend Rubel Entschädigung wollte er, weil „sein Bericht entstellt, seine Ehre beleidigt“ worden sei. Als er der Schriftstellerin dann vor Gericht wiederbegegnete, kam der Mann argumentativ arg ins Schleudern – es steht zu vermuten, dass er zu seiner Anklage gedrängt wurde. Solche Vorgänge zeigen: Swetlana Alexijewitsch trifft einen Nerv, weil sie das Bild, welches sich die weißrussische und die russische Gesellschaft von sich machen, nicht bestätigt.Diese Auseinandersetzung zwischen Autorin und Staat kommt den westeuropäischen Kritikern Weißrusslands und Russlands nicht ohne Weiteres zugute. Denn so unzweideutig Swetlana Alexijewitsch in der Opposition steht, bewegt sie sich doch in den kulturellen, auch religiösen Traditionen dieser beiden Länder. Auch das macht die Lektüre von Zinkjungen wichtig. Denn dieses Buch enthält Gedanken und Gefühle vieler auch sogenannter einfacher Leute und führt vor Augen: Ihre Realität ist bei weitem vielschichtiger als unsere Bilder.
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