Wer es noch nicht wusste: „Digitale Medien machen süchtig. Sie schaden langfristig dem Körper und vor allem dem Geist.“ Die Folgen seien Aufmerksamkeitsstörungen, Ängste, Abstumpfung, Schlafstörungen, Depressionen, Übergewicht, Gewaltbereitschaft und „sozialer Abstieg“. Das behauptet der Neurologe Manfred Spitzer, der mit seinem Buch Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen für Wirbel sorgt. Der apokalyptische Ton erinnert an die Lesesucht-Debatte um das Jahr 1800. Der Kantianer Adam Bergk schrieb damals über das Lesen von Romanen: „Die Folgen einer solchen geschmack- und gedankenlosen Lektüre sind also unsinnige Verschwendung, unüberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, grenzenloser Hang zum Luxus, Unterdrückung der Stimme des Gewissens, Lebensüberdruß und ein früher Tod.“
Die Drohung mit einem „frühen Tod“ ist so gut wie die mit dem „sozialen Abstieg“, wenn man einen Bestseller generieren will, bestätigt es doch die schlimmsten Befürchtungen des Publikums. Da hat man die besorgten Mütter auf seiner Seite. Erst recht, wenn auch andere Klischees bedient werden: „Im Internet wird mehr gelogen und betrogen als in der realen Welt“ schreibt Spitzer. Oder: „Soziale Online-Netzwerke beeinträchtigen das Sozialverhalten und fördern Ängste und Depressionen.“ Ja, er meint gar: „Wer eine Playstation verschenkt, verschenkt schlechte Noten und Schulprobleme“.
Nicht, dass Spitzers Thesen falsch wären. Selbst ohne die wie auch immer zustande gekommenen „weltweit nachgewiesenen“ Resultate neurobiologischer Studien wissen wir doch selbst, dass die Maschinen uns geistige Arbeit abnehmen: Das Navi im Auto trainiert nicht das Navi im Kopf und Multitasking nicht das konzentrierte Lesen. Wir wissen, dass wir von Link zu Link eilen und Informationen eher jonglieren als verdauen. Das Denken ist kürzer und anstrengender geworden.
Es geht ja nicht um Ballerspiele
Nein, Spitzers Thesen sind nicht unbegründet. Aber man muss sie gegen den Ton schützen, in dem sie vorgetragen werden. Kulturpessimismus ist nicht hilfreich. Das illustriert sein Einwand gegen die Forderung der Bundestags-Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“, Computerspiele in die Medienbildung einzubeziehen: „Sind Ballerspiele also Teil unserer Kultur und daher staatlich zu fördern?“ Meint Spitzer wirklich, solche Empfehlungen zielten darauf, dass Lehrer gemeinsam mit ihren Schülern Computerwesen abschießen? Abgesehen davon, dass Ballerspiele zur Popkultur gehören und somit nicht ignoriert werden sollten, geht es im Unterricht natürlich vor allem um Computerspiele, mit denen man historische Ereignisse nachspielen oder gesellschaftliche Konflikte veranschaulichen kann. Den Versuch, die bloße Mediennutzungskompetenz in den Schulen mit einem entsprechenden Reflexionsvermögen auszustatten, als unkritisches „Hohelied auf die digitalen Medien“ abzutun, ist boshaft und naiv.
Spitzer richtet sein Buch auf ein Publikum aus, das nur nicht zu viel denken will. Der Applaus, den seine anekdotenreichen Medienauftritte erhalten, scheint ihm recht zu geben. Adam Bergk hätte diesem Buch wohl „Scheu vor jeder Anstrengung“ vorgeworfen; und wir fragen uns, ob es die geistige Verkümmerung, über die es angeblich aufklären will, nicht zugleich befördert.
Roberto Simanowski ist Medienwissenschaftler an der Universität Basel
Kommentare 5
Bei diesem Artikel denke ich wie immer bei interessanten Artikeln im Freitag: oh, jetzt geht's los, und dann ist er schon wieder vorbei. Nichts dagegen, sachen auf den Punkt zu bringen und nicht seitenlang rumzuschwurbeln, Aber das Gefühl, der Gedanke ist gar nicht zuende gedacht, weil dann schon wieder die Zeilenvorgabe überschritten ist, ist es auch nicht.
Der Medienwissenschaftler R. Simanowski verteidigt die eigenen Pfründe!
Wer einen Lehrstuhl für Medienwissenschaft inne hat, wie Roberto Simanowski, muss, angesichts der profunden Kritik des diplomierten Psychologen, promovierten Mediziners, Philosophen und habilitierten Psychaters Manfred Spitzer an den neuen Medien, um seine Pfründe bangen. Könnte sich doch die Profession Simanowkis als irreführend, überflüssig und auf jeden Fall als zu teuer erweisen.
Deshalb versucht Simanowski erst gar nicht, Spitzers Leistungen zu erfassen, zu verstehen und zu würdigen, sondern leitet seine Buchkritik und die Kritik an Spitzer mit dem herablassenden Ton des literarischen Alleswissers ein "Wer es noch nicht wusste ..." . Da stellt sich doch die Frage, was denn Roberto Simanowski weiß. Hat er denn die positive wie negative Kritik seiner eigenen Zunft rezipiert? Kennt er z.B. die Schriften Neil Postmans, Theodore Roszaks, Marshall McLuhans und Seymour Paperts, oder hat er gar des Pädagogen Hartmut von Hentigs Der technischen Zivilisation gewachsen bleiben gelesen?
Es scheint all das nicht der Fall zu sein. Denn Simanowski beruft sich auf den Kantianer Adam Bergk und dessen Kritik an seinen Zeitgenossen und legt uns Lesern damit eine Analogie nahe, die so etwas von falsch ist, wie etwas nur falsch sein kann.
Spitzer ist kein Kulturpessimist, sondern empirischer Naturwissenschaftler und Philosoph, der untersucht, vergleicht und auswertet. Dann erst zieht er seine Schlüsse. Spitzer ist also alles andere als naiv. Und er weiß sehr gut, von was er spricht und schreibt. Davon ist Roberto Simanowski Lichtjahre entfernt.
Das Publikum Spitzers ist wohl um einiges besser informiert als Simanowski das mit seinem Seitenhieb unterstellt. Die Scheu vor jeder Anstrengung hätte Simanowskis Vorbild Adam Bergk wohl Simanowski selbst vorgeworfen. Die Buchkritik Simanowskis ist wohl Ausdruck geistiger Verkümmerung von sich im Elfenbeinturm der Worte versteckender und von der Wirklichkeit abkapselnder Schreiber.
Die Retourkutsche zur Verteidigung Spitzers scheint hart, aber fair zu sein, denn natürlich ist auch meine Besprechung nicht frei von Verkürzungen. Nur muss man eben wirklich, wie Popkontext anmerkt, bedenken, dass die Zeilenvorgabe in einer Zeitung (im Unterschied zu einem Buch) kaum mehr Differenzierung zulässt, als eben die, Spitzers Sorge zur Medienentwicklung zu bestätigen, die Art der Argumentation aber problematisch zu finden.
Die Unterstellung, man sei mit den einschlägigen Medienkritikern nicht vertraut, nur weil sie in einem so kurzen Text keine Erwähnung finden, ist amüsant. Da ein Blog mehr Raum bietet, hier der Abschnitt zu ähnlich gelagerter Medienkritiker vor Spitzers Buch, der in der Printausgabe der Zeilenknappheit zum Opfer fiel: Es ist auch nicht so, dass Spitzers Thesen neu wären. Die Gehirnforscherin Maryanne Wolf (die Spitzer nicht erwähnt) hat schon 2008 in ihrem Buch Proust and the Squid: The Story and Science of the Reading Brain vor dem Verlust des „deep thinking“ durch den Verlust des „deep reading“ gewarnt. Der Publizist Nicolas Carr (den Spitzer nur kurz und in der Fehlannahme, es gehe bei Carr lediglich um Google, zitiert) hat Wolfs Thesen 2010 in seinem Buch The Shallows: How the Internet Is Changing the Way We Think, Read and Remember aufgegriffen. Der Philosoph Bernhard Stiegler (den Spitzer offenbar nicht kennt) hat 2008 in seinem Buch Die Logik der Sorge. Verlust der Aufklärung durch Technik und Medien den generationsspezifischen Übergang von der „deep attention“ zur „hyper attention“ als reflexionslose Wachsamkeit für verschiedene Stimulationen problematisiert.
Was die Pfründe betrifft: Das stimmt schon, Medienwissenschaftler, die in ihren Publikationen und Seminaren für eine differenzierte Betrachtung der jeweiligen Phänomene werben, fühlen sich nicht gerade unterstützt durch jene, die medienwirksam einem komplexen Problemfeld den Anschein einfacher Antworten geben. Gerade weil man als Medienwissenschaftler an der Uni nicht im Elfenbeinturm sitzt, sondern in Seminaren täglich mit den digital natives zu tun hat, weiß man, wie unwirksam radikale Medienschelte ist und wie realitätsfremd zum Beispiel der Vorschlag, die Leitmedien dieser Generation nicht in die medienpädagogische Arbeit einzubeziehen.
Spitzers Unterstellung, es gehe den Medienpädagogen, die Computerspiele in ihre Arbeit einbeziehen wollen, ums Ballerspiel, ist und bleibt naiv oder eben, in bewusster Unterschlagung der Begründungen für ein solches Anliegen, boshaft. Die Enquete-Kommission, die Spitzer kurzerhand abstraft, beruft sich bei ihrem Vorschlag (http://www.bundestag.de/internetenquete/dokumentation/Medienkompetenz/Zwischenbericht_Medienkompetenz_1707286.pdf) im Abschnitt 5.3.12 auf die AG Computerspiele und Pädagogik des Kongresses „Keine Bildung ohne Medien“ (http://www.keine-bildung-ohne-medien.de). Dort hätte Spitzer im „Medienpädagogischen Manifest“ nachlesen können, dass die angestrebte Medienkompetenz „auf die Fähigkeit zur sinnvollen, reflektierten und verantwortungsbewussten Nutzung der Medien“ zielt, wozu „die Fähigkeit zu überlegter Auswahl, zum Verstehen und Interpretieren medialer Kodes, zu einer reflektierten Verwendung von Medien in Freizeit, Schule und Beruf“ gehört.
Wer ein solches durchaus plausibles Anliegen kritisieren will, sollte, das gehört zur Redlichkeit, Sinn und Ziel der Vorschläge zunächst entsprechend wiedergeben, bevor er alarmistisch vom „Hohelied auf die digitalen Medien“ und staatlicher Förderung für Ballerspiele spricht. Alles andere ist einfach unserious und eben ärgerlich für Medienwissenschaftler und –pädagogen.
PS: Bedauerlich, dass es keine Begründung gibt, warum mein Verweis auf ähnlich überspitzte Medienkritik einst bei Adam Bergk „so etwas von falsch ist, wie etwas nur falsch sein kann“. Wie soll man da wissen, wie richtig der Einwand ist?!
Ein anderer Fachmann äußert sich dazu:
Zwischenbilanz zu Spitzers “DigitaleDemenz”
"Wenn ich als Mitglied einer Evaluationskommission dieses Buch in die Hand bekäme, müsste ich eigentlich die Gelder streichen. Und ausnahmsweise lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich hier als Dr.phil.habil. (Literaturwissenschaft, Semiotik, Medienwissenschaft) schon beurteilen kann, was “wissenschaftlich” ist."
Naja, bei aller berechtigten kritik an den Überzeichnungen in den darstellung von Herrn Spitzer glaube ich, dass es notwendig ist, zu provozieren, um in unserer Mediengesellschaft ein Thema für länger als einen Tag in die Diskussion zu bringen. Dies hat sein Buch geschafft und allein das macht es wichtig. Die beschriebenen Mechanismen bei der Rezipierung moderner bidirektionaler Medien durch das menschliche Gehirn sind sicher nicht falsch dargestellt. Auch wenn einfache Zusammenhänge zwischen dem Spielen am Computer und Gewaltbereitschaft in der realen Welt nicht herzustellen sind, so finden doch Veränderungen im Gehirn statt, die uns nicht gefallen können. Wie kommt sonst ein Mensch, der als unschuldiger Säugling geboren wird, und in einer im wesentlichen materiall gesicherten Umgebung aufwächst, auf die Idee einem anderen Menschen ins Gesicht zu treten, den Schädel zu zertrümmern, oder menschen ohne Mitgefühl zu quälen. Ich bin sicher, hier spielen moderne Medien eine erhebliche Rolle.