Sozialismus als Sowohl-als-auch?

Parteien Thomas Meyer, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, und Dieter Klein, Vorsitzender der PDS-Grundsatzkommission, streiten über die Notwendigkeit moderner Antworten auf neue Erscheinungen des Kapitalismus

Haltbarkeitsdatum abgelaufen, heißt es derzeit in allen Parteien des linken Spektrums über die eigenen Grundsatzprogramme. Bei PDS und SPD stammen sie noch von Anfang der neunziger Jahre, das bündnisgrüne ist sogar noch zehn Jahre älter. Zeitgleich arbeiten deshalb die jeweiligen Grundsatzkommissionen an neuen Entwürfen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung setzte Anfang Juni Thomas Meyer, den stellvertretenden Vorsitzenden der Grundwertekommission der SPD, und Dieter Klein, den Vorsitzenden der Grundsatzkommission der PDS, unter der Überschrift "Freiheit und Gleichheit?", zur Kernfrage jeder sozialistischen programmatischen Diskussion, an einen Tisch. Wir dokumentieren Auszüge aus dem Gespräch, das von Michael Brie moderiert wurde.

Michael Brie: Herr Meyer, Sie haben den Programmentwurf gründlich gelesen. Ihr Resümee?

THOMAS MEYER: Nach einer Lesung in guter Absicht komme ich zu dem Ergebnis: Das ist der Programmentwurf einer demokratischen und sozialistischen Reformpartei, auch wenn die Äußerungen über den Rechtsstaat und die Demokratie noch besser ausgebaut werden könnten. Deswegen hat die PDS sicherlich schon eine Modernisierung vollzogen, wenn auch nur halb. Was fehlt, ist ein Gestaltungsentwurf, in dem sie genau sagt, was ihr an dieser Gesellschaft gefällt und was sie mit welchen Mitteln verändern möchte. Kurz: Ich vermisse realisierungsfähige oder wenigstens für realisierungsfähige Konzepte anschlussfähige Projekte in dem Programm. In weiten Strecken ist eine tiefgehende Zwiespältigkeit dominant, die das ganze Programm entscheidend prägt. Eine Zwiespältigkeit zwischen prinzipieller Systemopposition und sektoralem Gestaltungswillen. Eine Ambivalenz zwischen altmarxistischer Rhetorik, die nur sehr ungenau auf das bezogen werden kann, was die eigentlichen Probleme einer Gesellschaft sind, und wiederum doch zaghaften Modernisierungsversuchen. Zwischen einem altsozialistischen Eigentumsbegriff und im Kern dem Versuch, einen funktional sozialistischen Eigentumsbegriff zu gewinnen. Eine Ambivalenz zwischen einem prozessbestimmten Sozialismusbegriff, der sich aus bestimmten Grundwerten heraus als ein Prozess der erfahrungsoffenen Veränderung versteht und dann doch wieder Resten der Systemfiktion. Eine Ambivalenz zwischen Anspruch und Rhetorik tiefgehender Überwindung der gegebenen Verhältnisse und dann doch wieder ziemlich realistischen Hinweisen, es könne bei diesen Veränderungen letztlich nur um marktkonforme Regulierungen gehen, um die Zurückdämmung von Profitdominanz.


DIETER KLEIN: Da Sie gerade von altmarxistische Vorstellungen gesprochen haben: An einer würde ich gerne festhalten. Nämlich an der Vorstellung von Marx, dass das, was den Kapitalismus eigentlich ausmacht, Kapitalverwertung ist. Aber ich modifiziere das zugleich und sage: Der Kern des Problems ist die Dominanz der Kapitalverwertung über die Gesellschaft, die vor allem eine Dominanz des Profits der großen Kapitale ist. Deswegen haben wir im Programm ganz deutlich gesagt, dass wir zwischen der kapitalistischen ökonomischen Grundstruktur der bürgerlichen Gesellschaft in der Bundesrepublik und anderen Seiten der modernen bürgerlichen Gesellschaft, die weit über diese Grundstruktur hinausgehen, zu unterscheiden wissen. Und ein Gestaltungsentwurf? Der Teil III enthält Alternativen auf sechs entscheidenden Politikfeldern.

MEYER: Aber wie verhält sich denn auf längere Perspektive die Akzeptanz der ökonomischen Funktion von Gewinnmotiven auf der einen und die Forderung nach Überwindung des modernen Kapitalismus als Ganzem auf der anderen Seite? Das bleibt auf irritierende Weise an den Stellen, die dafür besonders wichtig sind, offen. Es gibt einen Widerspruch, von dem man nicht genau weiß, ob das ein Widerspruch ist, nur um verschiedene Parteiteile zu befriedigen. Die PDS will, hatte ich den Eindruck, gleichzeitig Systemopposition und Reformpartei sein. Geht beides? Abstrakt gesehen natürlich. Man kann auch als Reformpartei mit einem Systemoppositionsprogramm leben. Das hätte dann aber eher eine Beschwichtigungsfunktion nach innen. Im vorliegenden Text jedenfalls führt dieses Sowohl-als-auch letzten Endes doch zu einem Weder-noch.

KLEIN: Zugegeben, wir beachten in der Tat auch die interne Verfasstheit der Partei und wollen durchaus eine Brücke schlagen zwischen denen, die den Kapitalismus frontal infrage stellen, und denen, die moderne Reformen voranbringen wollen. Das heißt, wir sagen ganz ausdrücklich, dass es zivilisatorische Gewinne in dieser modernen bürgerlichen Gesellschaft gibt, an denen festgehalten werden muss, weil wir überhaupt nur eine Chance für ein transformatorisches sozialistisches Projekt sehen, wenn es sich vergewissert, was in dieser Gesellschaft an Ansätzen zu weiterer Entfaltung, zu einer sozialen und ökologischen nachhaltig wirkenden Gesellschaft vorhanden ist. Das ist ein Widerspruch in der Realität selbst.

MEYER: Der zentrale Zwiespalt des ganzen Programms besteht nach meiner Auffassung im Eigentumsbegriff. Es geht um die Frage, wer hat die reale Verfügung über verschiedene Eigentumsfunktionen. Wer kann etwa Vorentscheidungen für Investitionen, Vorentscheidungen für Arbeitsorganisationen, Vorentscheidungen für ökologische Wirkungen, Vorentscheidungen für soziale Folgen treffen? Es gibt Passagen, da bekommt man den Eindruck, dass dieser funktional-sozialistische Eigentumsbegriff der gesellschaftspolitische Hauptbestimmungsfaktor sei. Aber das wird weiter nicht ausgeführt sondern nach meinem Verständnis von einem zweiten Eigentumsbegriff überlagert. Nämlich einem Eigentumsverständnis als Rechtsform mit der Unterscheidung von Privateigentum und nicht privatem Eigentum: Privateigentum, Gemeineigentum, genossenschaftliches Eigentum. Da sind wir wieder beim Substanzmodell - Eigentum muss überwunden werden, indem das Privateigentum überwunden wird.

KLEIN: Wir sind für den Wettbewerb der Eigentumsformen, um die Form zu finden, die am meisten nachhaltige Effizienz zeitigt und am ehesten in der Lage ist, sozial gleiche Teilhabe der Menschen an dem hervorzubringen, was wir soziale Freiheitsgüter genannt haben. Die Profiteure internationaler Finanzspekulationen, der Rüstung, der Ausplünderung des Südens durch den Norden sind dies auf alle Fälle nicht. Wir lassen damit etwas offen, natürlich. Aber wie sollten wir auch anders? Man muss doch erst mal sehen, wo beispielsweise die Ausweitung des Kommunaleigentums geeigneter ist als dessen Privatisierung. Und Gesundheit, Bildung, und Patentierung menschlichen Lebens sollen ihrer inneren Natur gemäß kapitalistischer Privatisierung entzogen sein.

MEYER: Übrigens, eine sehr gute Idee, von Freiheitsgütern zu sprechen. Es müssen nämlich eine ganze Menge von Leistungen - sozialstaatliche Leistungen, Zugänge zum Arbeitsmarkt, zum Bildungssystem - da sein, damit der Einzelne die materiellen Vorraussetzungen für seine Freiheitsentfaltung gewinnt. Wie auch die Betonung der Wechselbeziehung von Freiheit und Gleichheit aus meiner Sicht solide, fruchtbar und zukunftsfähig gelungen ist. Und dennoch erweckt das Programm den Eindruck, als wenn die Veränderung von Eigentumsverhältnissen nur eine Machtfrage sei. Das Programm unterschätzt systematisch, wie viel im Bereich der Wirtschaft der Rolle von Privateigentum, der Rolle von Markt übertragen werden muss, wenn man in komplexen Gesellschaften überhaupt vernünftige Ergebnisse erzielen will und auf der anderen Seite, wie viel mit Macht erreicht werden kann. Die Grenzen dafür, was man gestaltend machen kann und will, liegen in bestimmten Grundprozessen der ökonomischen Logik. Und zwar umso mehr, je mehr diese Logik eine globale ist.

KLEIN: Ich verstehe ja, dass eine sozialdemokratisch geführte Regierung, die mit Unternehmerverbänden Konsens sucht, noch mehr unter Druck geriete, wenn sie die Perspektive einer Veränderung von Eigentums- und Machtverhältnissen ausdrücklich ins Auge fasste. Aber wenn sie dies nicht öffentlich tut und dabei solche Fragen wie etwa ökologische Großprobleme auf die Tagesordnung setzt, hat sie ohne Vorbereitung des öffentlichen Problembewusstseins keine Unterstützung und demokratische Legitimierung für weitergehenden Wandel. Da gehört öffentlicher und aufklärender Druck von links durch die PDS zu deren sehr wichtigen Funktionen.

MEYER: Sie hätten aber auch die Frage nach dem Verhältnis von Ökonomie und Gesellschaft beantworten müssen: Was ist eigentlich kapitalistisch am Kapitalismus? Wenn man akzeptiert, dass Unternehmertum und Gewinnmotiv für Innovation, Produktivität und wirtschaftliche Entwicklung eine zentrale Rolle spielen, ist dann die ganze Gesellschaft kapitalistisch? An vielen Stellen wird das so gesagt.

KLEIN: Also, wir bezeichnen nicht die ganze Gesellschaft als ausschließlich kapitalistisch geprägt. Kapitalistisch ist vor allem die Dominanz des Profits in Wirtschaft und Gesellschaft als deren letztlich entscheidendes Maß. Und dies ergibt sich nicht aus dem Gewinninteresse der kleinen Unternehmen von nebenan, sondern aus der Übermacht der Kapitalzentren, deren Geschäftsinteressen heute mehr gelten als soziale und ökologische Kriterien. Kapitalistisch ist die Gesellschaft nicht, weil sie durch die Existenz des Marktes geprägt ist. Wir haben uns in diesem Programm davon verabschiedet, dass es der Maßstab sein sollte, etwa den Markt zu überwinden. Das ist eine ganz elementare Erfahrung aus dem Scheitern des Staatssozialismus. Aber wir sagen auch, dass diese Gesellschaft nicht unseren Idealen und Wertvorstellungen entspricht. So wie sie ist, so wie sie immer noch sozial polarisiert ist, so wie sie wachstumsbesessen ihre Umwelt zerstört, so wie sie die Nord-Süd-Konstellation bisher prägt, wollen wir sie nicht.

MEYER: Die neuere sozialwissenschaftliche Diskussion hat vor allem gezeigt, dass eigentlich die interessanteste Frage ist, was für verschiedene Typen von Kapitalismus es gibt. Es gibt den angelsächsischen Typ, der sehr stark liberal oder neoliberal geprägt ist. Es gibt den rheinischen Typ, mit einer großen Rolle für politisch-demokratische Rahmensetzungen, für Sozialstaat, für Mitbestimmung und dergleichen. Es gibt einen ostasiatischen Typ. Diese gewaltigen Differenzen zwischen den verschiedenen Typen nimmt das Programm nicht zur Kenntnis. Sie werden sogar verdeckt, indem alles unter der Überschrift "Neoliberaler Kapitalismus" subsumiert wird. Damit gerät man in einen Widerspruch zu einer Reihe von Realitäten im Sozialstaatsbereich und im Demokratiebereich, die man doch auch gegen Übergriffe des Kapitalismus verteidigen sollte.

KLEIN: Ich gebe zu, wir haben die verschiedenen Typen des Kapitalismus nicht ausdrücklich unterschieden, obwohl ich glaube, dass unverkennbar ist, dass wir den rheinischen Kapitalismus präferieren, ihn allerdings verändern und über ihn hinaus wollen.

MEYER: Ich fände es eine gute Formulierung zu sagen: Unsere Perspektive ist der rheinische Typ des Kapitalismus mit viel Sozialstaat, mit viel Mitbestimmung, mit viel Demokratisierung, mit einer funktionierenden Zivilgesellschaft. Wenn es gelingt, das auch durch eine europäische und globale politische Regulierung sicher zu stellen, hätten wir unwahrscheinlich viel gewonnen. Aber auch diesen Aspekt, nämlich die für mich ganz entscheidende Frage fehlt: Wie gehen wir mit der politischen und ökonomischen Globalisierung um? Und da fand ich es übrigens auch sehr erstaunlich, dass ganz wenig über den Umgang der Partei mit den neuen Technologien gesagt wird.

KLEIN: Noch einmal, unsere Perspektive ist mehr als der rheinische Kapitalismus. Und natürlich sind wir uns bewusst, dass wir der Technologiepolitik ein entschieden größeres Gewicht zumessen müssen. Wir arbeiten daran und wissen, dass es nicht um eine vorrangig technologiekritische Position, sondern um Abwägung von Gefahren und Chancen geht. Wir haben auch in dem Teil über Umwelt gesagt, dass wir in den Hochtechnologien ebenso große Gefahren wie Chancen sehen, für Energieumbau, für Ressourceneffizienz und so weiter.

MEYER: Zuletzt bleibt schließlich auch die Frage offen, was denn die Rolle der PDS eigentlich ist. Was will sie mit diesem Programm, welche Funktion hat es? Dort, wo die zweite Hälfte der notwendigen Modernisierung erfolgen müsste, nämlich ein Projekt, wie eine komplexe Ökonomie und Gesellschaft demokratisch gesteuert werden soll, finden sich in der Hauptsache nur populistische Forderungen. Zu wenig für verantwortliche Politikgestaltung.

KLEIN: Die Funktion der PDS ist, hier und heute zu helfen, dass diese Gesellschaft in die Richtung von mehr Gerechtigkeit, Freiheit und soziale Sicherheit gerät. Das ist ein Ansatz, der Rückhalt geben soll, auch zum Nein-Sagen in der Gesellschaft. Dies ist ein Grundanliegen in diesem Entwurf: Dass man von unten her nein sagen kann, ohne in soziale oder andere Nöte zu geraten. Aber die Funktion der PDS ist auch, an dem Bewusstsein mitzuwirken, dass es weitergehen sollte, als es jetzt sozialdemokratisch und grün programmatisch und pragmatisch formuliert wird. Ich glaube, das ist eine ordentliche Funktion der PDS.

Bearbeitung: Robert John und Jörn Kabisch

Thomas Meyer, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Dortmund, ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD und wissenschaftlicher Leiter der Akademie der Politischen Bildung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er forscht zu den Themen Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie und Bildungspolitik.

Dieter Klein, Ökonom und Sozialwissenschaftler, gehört dem Parteivorstand der PDS an und lehrt als Professor für politische Grundlagen an der Berliner Humboldt-Universität. Außerdem ist er Vorsitzender der PDS-Grundsatzkommission und im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. In seiner aktuellen Publikation Zeitgemäße sozialistische Programmatik oder brutalstmögliche Totalkritik fordert er "konstruktive Alternativen" anstelle fortdauernder "Antihaltungen".

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