Sozialismus oder Sieg

Großbritannien Als erklärter EU-Anhänger wäre Labour-Chef Corbyn wohl längst Regierungschef und könnte die Tories zur Regeneration schicken
Ausgabe 40/2017
Die Kampagne für die nächste Unterhauswahl hat schon wieder begonnen
Die Kampagne für die nächste Unterhauswahl hat schon wieder begonnen

Foto: Daniel Leal-Olivas/AFP/Getty Images

Ihren Höhenflug verdankt die Labour Party diesem Parteichef und den vielen jugendlichen Anhängern. Erstmals seit langer Zeit gab es wohl vor allem deshalb vor Wochenfrist auf dem Parteitag in Brighton keinen Führungsstreit. Jeremy Corbyn hat enorm dazugelernt, er ist persönlich und politisch gewachsen, das muss man ihm lassen. Er hat bei seiner Parteitagsrede das Ziel beschworen, den schwer beschädigten Wohlfahrtsstaat wiederherzustellen und den durch Privatisierungen verwüsteten öffentlichen Sektor wiederaufzubauen. Man müsse zu Rechten zurückkehren, die unter die Räder gekommen seien, wie der Mieterschutz. Corbyn verheißt eine Wende hin zu traditionell sozialdemokratischer Politik. Von Sozialismus kann keine Rede sein, auch wenn einige seiner Sympathisanten das glauben. Im Übrigen ist eine Parteitagsrede keine Regierungserklärung, so dass viele Details, in denen bekanntlich der Teufel lauert, im Ungefähren blieben. Vorerst geht es um den Politikwechsel an sich.

Fraglos profitiert Labour derzeit von der heillosen Konfusion, in die das Kabinett von Premierministerin May ohne Brexit-Kompass geraten ist. Eine ehemals bewunderte Nation wird zum Gespött der Welt, so dass die Konservativen auf ihrem Parteikongress soeben in Manchester heftig um den Eindruck von Geschlossenheit bemüht waren. Zuvor schon hatte Theresa May bei ihrer Rede in Florenz eine Anleihe bei Keir Starmer genommen, dem Schatten-Brexit-Minister von Labour, und für eine Übergangsperiode von zwei Jahren plädiert, die dem EU-Ausstieg folgen solle. Ein Indiz dafür, dass die Opposition die Tory-Regierung in der Brexit-Frage durchaus vor sich her treiben kann.

Auf dem Parteitag wollten sich die Corbynistas freilich nicht festlegen. Es waren die Mitglieder der linken Momentum-Bewegung, die eine Entscheidung über die Brexit-Strategie samt Abstimmung mit allen Tricks zu verhindern wussten. Die erklärten EU-Gegner in der Partei wollten aus ihrer Wohlfühlzone des Ungefähren nicht heraus und bei Absichtserklärungen bleiben. Man hätte gern die Vorteile von Binnenmarkt und Zollunion, gleichfalls seien die Rechte der EU-Bürger auf der Insel ohne Wenn und Aber zu garantieren. Das klingt alles sehr nobel, ergibt nur keine Strategie. Als Regierung im Wartestand kommt Labour nicht daran vorbei, dem Tory-Chaos in Sachen Brexit eine klare Alternative entgegenzusetzen. Darüber sind sich viele Analysten einig: Da eine überwältigende Mehrheit bei Labour – Mitglieder wie die große Schar junger Anhänger – proeuropäisch denkt, erschien es zumindest nicht unwahrscheinlich, dass Labour mit einer klaren Position in Sachen Brexit die Unterhauswahl am 8. Juni gewonnen hätte. Jeremy Corbyn könnte längst Regierungschef sein.

Bullshit vom Feinsten

Kurz nach dem jüngsten Parteitag hat er erstmals öffentlich vor einem Millionen-Fernsehpublikum erklärt, warum er den Abschied von der EU im Grunde seines Herzens begrüßt. Deren Regeln würden genau die progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik verhindern, die Labour wolle. Das ist das Leib- und Magenargument der EU-Opponenten auf der Insel. Nur wer in Brüssel aussteigt, gewinnt die Freiheit für eine andere Politik.

Das ist, mit Verlaub, dummes Zeug, oder, auf gut Englisch, Bullshit vom Feinsten. Das hätten die Neoliberalen gern, die seit Mitte der 1990er Jahre nichts unversucht gelassen haben, um die EU zu kapern und in ihrem Sinne auszurichten. Aber weder das EU-Recht noch die EU-Institutionen lassen sich so weit vereinnahmen, dass daraus eine auf alle Zeit vorbestimmte Wirtschaftsordnung wird.

Jedenfalls wird die Brexit-Frage Labour nicht aus der europäischen Verantwortung entlassen. Die Labour-Tradition von Tony Benn und Michael Foot, sich einen Sozialismus auf einer kleinen Insel vorzustellen, ohne Einmischung von außen, war schon in den 1980er Jahren eine idealistische Schrulle. Sich darauf zu besinnen, hat für eine moderne Sozialdemokratie keinen politischen Gebrauchswert. Wenn Corbyn den Mut hätte, manche Anti-EU-Attitüde abzustreifen, könnte sich Labour um eine Erneuerung der europäischen Sozialdemokratie verdient machen.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden