Sein wichtigstes Requisit trägt Philippe Martinez im Gesicht: einen buschigen schwarzen Schnauzbart, inzwischen von ein paar grauen und weißen Fäden durchzogen. So viel inszenierter Bourgeois-Schreck muss sein, für den Vorsitzenden des großen Gewerkschaftsbundes Confédération générale du travail (CGT) in Frankreich, wo sich das Kapital in der Regel erst an den Verhandlungstisch setzt, wenn es dazu geprügelt wurde. Der gelernte Metaller Martinez praktiziert das routiniert. Auf Jugendbildern zeigt er noch ein schlecht rasiertes, weiches Hidalgo-Gesicht. Der spanische Vater hatte im Bürgerkrieg gegen General Francos Faschisten gekämpft, bevor er in die Pariser Banlieue flüchten musste.
Über die Jahre hat Philippe Mart
lippe Martinez gelernt, dass ein gut gespielter Wutanfall zum Handwerkszeug jedes Gewerkschafters gehört. Seinen Part als „böser Mann“ gibt der 61-Jährige mit selbstironischer Lust. Als im Oktober der Streik der Arbeitenden in den Raffinerien von Total und Esso für zehn Prozent Teuerungsausgleich zu Spritverknappungen und Wildwest-Szenen an den Tankstellen führte, spielte Präsident Emmanuel Macron den Konflikt nach altem Drehbuch. Der Streik sei ein „illegitimer“ Anschlag „einer kleinen Minderheit“ auf die Republik, tönten Macron und seine Minister – er müsse sofort beendet werden. Egal, ob die Sprit- und Gaspreise explodiert, ob die Lebensmittel in den Supermärkten um zwölf Prozent gestiegen sind und einer von vier Franzosen seine Rechnungen nicht mehr begleichen kann, während Total monströse Krisengewinne einfährt. Milliarden sind an die Aktionäre ausgeschüttet worden, nur über Lohnanpassungen sollte partout nicht verhandelt werden.Da wären ein paar kritische Fragen nicht falsch gewesen, doch Frankreichs Medien, die fast ausschließlich im Besitz von Macrons Milliardärsfreunden sind, verbündeten sich zu Hatz und übler Nachrede auf Martinez. Der Starmoderator einer großen Senderkette pflaumte ihn an, sein Streik blockiere Ambulanzfahrer, andere Notdienste, Handwerker und Kurierdienste. Und all dies geschehe in aufrührerischer Absicht.So viel Ressentiment war unverdient. Denn der CGT-Chef war zunächst zum Jagen getragen worden. Am 27. September, als die Beschäftigten in den Raffinerien den Arbeitskampf lostraten, war Martinez in der CGT-Trutzburg an der Pariser Stadtgrenze noch ganz auf die Organisation eines nationalen Aktionstages mit den Gewerkschaften SUD („Solidaire“), FSU und Force Ouvrière (FO) konzentriert. Der Streik der Raffinerien „stand nicht auf seiner Agenda“, räumt CGT-Zentralsekretärin Angeline Barth ein.Total selbst hatte die Lunte ans Pulver gelegt mit jener provokanten Sonderausschüttung von Ukraine-Kriegs-Gewinnen an die Aktionäre. Als dann die Regierung einige Streikende unter Verletzung des Streikrechts zum Dienst verpflichtete und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire Fake News über deren Löhne streute, nahm der Ausstand auch im öffentlichen Dienst und darüber hinaus rasch Fahrt auf. Bereits in früheren Konflikten waren die „Petrochemischen“ – einer von über 120 Verbänden unter CGT-Dach – eine treibende Kraft gewesen, etwa beim Widerstand gegen die neoliberalen Arbeitsgesetze oder gegen die erste Rentenreform Emmanuel Macrons Ende 2019.Kalt erwischt, brauchte die CGT-Zentrale einige Tage, bis sie ihrer Basis hinterhergeeilt war, was ihr in den Streikzentren bei Marseille und in der Normandie giftige Spitzen von CGT-Betriebsräten eintrug. Solche Situationen kennt Martinez freilich gut. 1982 hatte er beim Autobauer Renault in Billancourt angeheuert, in der Industriekathedrale Frankreichs, wo vor den großen Streiks im Mai 1968, die Tote unter der Belegschaft forderten, noch 35.000 Mann aus 56 Nationen fordistische Band- und Schichtarbeit verrichteten. Billancourt war die Vitrine aller Klassenkämpfe. Die CGT hatte die Belegschaft mit kontrollierten Streiks befriedet, die Maoisten rausgeworfen, aber gleichzeitig erhebliche soziale Fortschritte errungen. 1982 lösten die enttäuschten Hoffnungen auf den sozialistischen Präsidenten François Mitterrand neue Protestwellen aus. Und 1986 erschoss die maoistische Action Directe den Renault-CEO Georges Besse. CGT-Mann Martinez lernte damals, hart zu reden und kühl zu handeln.Viele große Niederlagen und einige kleine Siege haben ihn geformt und zu der Taktik finden lassen, zugunsten der französischen Gewerkschaften auf Sicht zu navigieren: hier die Arbeitenden, die sich von der CGT oft wenig gehört wähnen und zum Handeln drängen, dort rabiat neoliberale Regierungen, die glauben, Gewerkschaften ignorieren zu können, um sie auf Dauer ganz zu eliminieren. Martinez sagt: „Macron hört uns nicht.“Als gewiefter Pragmatiker erkannte er nach anfänglichem Zaudern das Momentum im Streik der strategisch wichtigen Brennstoffindustrie. In nur drei Wochen hat die Lohnfrage, die Macron für totgeredet hielt, die Kräfteverhältnisse mit Regierung und Arbeitgebern umgestürzt. Nun befeuert sie, neben der Umweltkatastrophe, die schnell wachsende soziale Bewegung um die linksökologische Parteienkoalition Nupes. Vorerst hält Martinez, auf Autonomie der Gewerkschaften bedacht, noch Distanz zu dieser Allianz – offiziell zumindest. Tatsächlich hat er viele Türen geöffnet, zum Unwillen der alten kommunistischen Riege in der CGT. Denn im Gegensatz zu den KP-Nostalgikern erahnt Martinez eine historische Möglichkeit: Im Kampf für Löhne und Renten, die zum Leben reichen, könnten die diversen ökologischen, sozialen und feministischen Widerständigkeiten zu einer kritischen Masse werden – zu einer neuen Volksfront gegen rechts.