„Was hast du erwartet, großes Kino und ein Happyend?“ – Literatur aus dem Gastland Spanien
Frankfurter Buchmesse 2022 Sprachgewaltig und eloquent beschreiben diese spanischen Autorinnen den Kampf gegen Unterdrückung: Diese Romane der jungen Schriftstellerinnen aus dem Gastland der diesjährigen Buchmesse muss man gelesen haben
„Fickt euch doch alle“, brüllen die Ich-Erzählerin und ihre wenige Jahre ältere Freundin in Najat El Hachmis Entwicklungsroman Am Montag werden sie uns lieben. Mit alle sind „die Väter, die Brüder, die Ehemänner, die Prediger“ gemeint, die mit ihren gleichermaßen lüsternen wie abschätzigen Worten, Blicken und Taten das Leben der beiden Frauen terrorisiert haben.
Die 1979 in Marokko geborene Autorin erhielt im vergangenen Jahr für ihren aktuellen Roman den Premio Nadal, Spaniens ältesten Literaturpreis. Das vielfach ausgezeichnete Werk der in Barcelona lebenden Autorin dreht sich – autobiografisch motiviert – immer wieder um die Frage, wie ihre Heldinnen zwischen den Anforderungen traditioneller Wertes
aditioneller Wertesysteme und Familienmodelle einerseits und den Bedürfnissen der modernen spanisch-katalanischen Kultur ihren Weg ins Leben finden müssen.Hier schreibt eine erfolgreiche Schriftstellerin einen Brief an ein anonymes Du, das sich als jene Freundin herausstellt, mit der sie später in die Nacht brüllt. Es entfaltet sich im Rückblick eine Emanzipationsgeschichte, die davon handelt, wie sich die zwei Frauen aus der Beklemmung der Trabantenstadt zwischen Schnellstraße, Fluss und Gleisen ins Zentrum von Barcelona vorkämpfen. Ein schmerzhafter Text, voller Einsamkeit und Entwurzelung, den Mutigen gewidmet, „die vom rechten Weg abkommen, um frei zu sein“.Die Freundin dient dabei als Projektionsfläche, weil sie die Herausforderung der Emanzipation vermeintlich besser bewältigt. Letztlich führen beide einen doppelten Kampf – gegen die Kultur von Unterordnung und Gehorsam, aus der sie kommen, und gegen den (körperlichen) Erwartungsdruck der Gesellschaft, in die sie wollen. Denn während hinter geschlossenen Türen selbstverlorene Patriarchen jeden Fortschritt verhindern, müssen sie sich auf der Straße permanent anpassen. In der Hoffnung, irgendwann die Erwartungen aller erfüllen zu können, nimmt die Erzählerin immer wieder montags einen neuen Anlauf.In einer klaren Prosa schreibt El Hachmi in der flüssigen Übersetzung von Michael Ebmeyer über Scham und Selbstzweifel ihrer Erzählerin, aber auch über ihre Entschlossenheit, Neugier und Lebensfreude. Sie übersetzt ihre Erfahrung in Empathie und lässt ihre Leser:innen teilhaben an der Zerrissenheit und den Entbehrungen ihrer Figuren, die allen Widerständen zum Trotz mutig der Freiheit entgegenlaufen.Die beiden zehnjährigen Mädchen in Andrea Abreus Insel-Roman So forsch, so furchtlos scheinen Welpenschutz zu genießen. Mit der Freiheit wilder Hündinnen ziehen sie durch ihr Dorf, machen allerhand Blödsinn und träumen von ausgedehnten Tagen am Strand. Und während sie die Kontrolle über ihre Körper verlieren, weil die ersten Hormone einschießen, dämmern die (Groß)Väter in den Bars und die (Groß)Mütter in den Küchen vor sich hin.Die 1995 auf Teneriffa geborene Autorin ist der neue Shootingstar der spanischen Literaturszene. Ihr Debütroman wurde in ihrer Heimat hymnisch gefeiert, auch hier erhielt Christiane Quandts rasante Übersetzung begeisterte Kritiken. So ganz ist die Euphorie nicht nachvollziehbar. Zwar entwickelt diese flirrende Geschichte mitunter den Punch eines Aufwärtshakens – „okay, Bitch, ich geh schon, Bitch, in Ordnung, Bitch, was immer du willst, Bitch“ –, liest sich aufgrund der rotzigen Rollenprosa aber eher wie ein Coming-of-Age-Roman für Jugendliche, der sich seinen Titel zum Programm macht.Anders verhält es sich mit Sara Mesas Roman Eine Liebe, der im vergangenen Jahr mit dem Preis des unabhängigen spanischen Buchhandels ausgezeichnet wurde. Wie schon in ihrem letzten Roman Quasi (der Freitag 10/2020) erzählt sie hier eine aufwühlende Geschichte, die Grenzen überschreitet und einem den Boden unter den Füßen wegzieht.Nat zieht kurzentschlossen in ein kleines Dorf, will unter der Sonne von Südspanien als Übersetzerin neu anfangen. Aber vom ersten Moment an läuft es nicht wie vorgestellt. Das Haus, in das sie einzieht, ist heruntergekommener, als sie es in Erinnerung hat. Ihr aufdringlicher Vermieter interessiert sich für alles Mögliche, nur nicht für die Mängel seiner Immobilie. Als es eines Tages durch die Decke regnet, macht ein Nachbar der alleinstehenden Frau ein unmoralisches Angebot.Mesas Roman lebt von seiner Doppelbödigkeit und beklemmenden Atmosphäre. Alles in diesem Dorf – seine eigenwilligen Bewohner, die freilaufenden Hunde, die flirrende Hitze – sorgt für ein schwer zu greifendes Unbehagen. Es herrscht eine seltsame Unbehaustheit und Kälte, die allem Unbekannten und Fremden mit Ablehnung begegnet. Dies spiegelt sich auch in der knappen Sprache, die in der prägnanten Übersetzung von Peter Kultzen jedes schmückende Detail auslässt, ohne Mehrdeutigkeiten und Ambivalenzen zu verwischen. Denn hinter denen tun sich die wahren Abgründe dieser Landflucht auf.Im Debütroman der Lyrikerin Elena Medel nehmen zwei Frauen den umgekehrten Weg. Sie verlassen die Provinz und gehen nach Madrid, um dort ihr Glück zu suchen. María ließ Ende der Sechziger Cordoba hinter sich, um in Madrid den Unterhalt für ihre Tochter zu verdienen, die sie bei ihren Eltern ließ. In der spanischen Hauptstadt gehörte sie zu jenen Unsichtbaren, die man nicht mit Namen ruft, „sondern nach der Wohnung, in der sie putzen, abwaschen, kochen“, und die „verschwinden, als hätten sie nie existiert“.Ein halbes Jahrhundert später geht ihre Enkelin nach Madrid, um dem Selbstmord ihres Vaters zu entkommen. In ihrem Leben wiederholen sich die Muster des prekären Daseins ihrer Großmutter unter anderen Vorzeichen. „Ich beneide die, denen es gut geht, und mich trösten die, denen es schlecht geht, denn durch sie fühle ich mich nicht so allein“, gesteht sie. Und während Alicia ihr Leben zunehmend entgleitet, geht María in einem anderen Viertel von Madrid für soziale Gerechtigkeit und Emanzipation auf die Straße.Für ihren poetischen Roman Die Wunder erhielt die 1985 geborene Lyrikerin Elena Medel als erste Frau den prestigeträchtigen Premio Francisco Umbral. Im Wechsel erzählt sie die aufeinander zulaufenden Schicksalsgeschichten ihrer beiden Heldinnen. Sie verbindet dabei die tristen Jahre nach der Franco-Ära (die in Almudena Grandes Epos Die drei Hochzeiten von Manolita eindrucksvoll geschildert wird) mit der von sozialer Ungleichheit geprägten Gegenwart. Dabei zeigt sie, wie sich der Mangel an Geld auf Körper und Seele ihrer Frauenfiguren legt, die jeden Tag ums Überleben kämpfen, während sich ihre Männer am Bier festhalten.Sexuell selbstbestimmtUm eine Existenz in Freiheit und Würde kämpfen auch vier außergewöhnliche Heldinnen in Cristina Morales’ umwerfendem Roman Leichte Sprache. Nati, Marga, Àngels und Patri leben in einer betreuten Wohngruppe in Barcelona, weil ihnen eine „geistige Behinderung“ attestiert wurde. Worin die genau besteht, erfährt man kaum. Man bekommt mitunter den Eindruck, dass sie als unbequeme Zeitgeister mit repressiven Mitteln ruhiggestellt werden. Die aber lassen das nicht mit sich machen. Jede erhebt für sich das Wort: Nati in einem inklusiven Tanzkurs, Marga im Kreis einer linken Gruppe von Hausbesetzer:innen, Àngels als Autorin eines Whatsapp-Romans und Patri im Zuge einer Gerichtsverhandlung, bei der entschieden werden soll, ob die sexpositive Marga „zu ihrem eigenen Schutz“ sterilisiert werden soll.Mit derlei Entmündigungen sind die vier Frauen ständig konfrontiert. Entschlossen, nein, radikal weisen sie sie zurück, indem sie sich mit allen Mitteln gegen die restriktiven Unterdrückungssysteme auflehnen. Morales, wie Medel Jahrgang 1985, erhielt für den Roman den Premio Nacional de Narrativa des spanischen Kulturministeriums. Im Juni wurde sie gemeinsam mit ihrer Übersetzerin Friederike von Criegern mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet. Die Konsequenz, mit der Autorin und Übersetzerin der durchaus leichten, aber niemals simplen Sprache ihrer Heldinnen mit entwaffnender Ironie eine vieldeutige Wirkmächtigkeit verleihen, ist wahrlich meisterhaft.Morales’ Roman ist gigantisch, ein alle Vorurteile und Klischees umwerfender Text, der sich mal in Leichter Sprache, dann in Form von Gesprächs- und Gerichtsprotokollen oder als linksalternatives Fanzine gegen machtpolitische Tendenzen auflehnt. In spielerischer Leichtigkeit werden gesellschaftspolitische Themen wie Partizipation, Inklusion und (sexuelle) Selbstbestimmung in die Luft geworfen, um deren ideologischen Missbrauch zugunsten einer wie auch immer gearteten „Normalität“ aufzuzeigen. Dabei werden nicht nur die repressiven Strukturen aufgezeigt, in denen Menschen mit Beeinträchtigungen leben, sondern auch die soziale Misere und der Ausverkauf der Stadt verhandelt.Die (Rück)Eroberung der Hoheit über das Leben, den Körper und die Sexualität sowie die Bedeutung sozialer Klassen prägen die junge feministische Literatur Spaniens. Sie ist vielseitig, preisgekrönt und sprachgewaltig. Mal kommt sie auf den leisen Sohlen der Poesie daher, dann wieder rollt sie über einen hinweg wie eine gigantische Welle. Sie verzichtet auf romantische Fantasien und zeigt die kalte Gegenwart, die Frauen immer wieder zur Verzweiflung bringt. „Fickt euch doch alle!“ bringt daher die Haltung, die in dieser Literatur mitschwingt, durchaus auf den Punkt. Wer sich daran stört, dem sei mit den Worten von Alicia gesagt: „Was hast du erwartet, großes Kino und ein Happy End? Das Leben sieht anders aus.“Placeholder infobox-1
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.