Mein Vater, der, wie es hieß, "Lungentuberkulose" aus dem Krieg mitgebracht hatte, lag mehrmals über einige Jahre hinweg in den Beelitzer Heilstätten, wo meine Mutter und ich ihn sonntags besuchten. Die Mauer versperrte uns den Weg durch Berlin, das bedeutete wir mussten mit dem "Sputnik", dem Doppelstockzug, Berlin südlich umfahren. In der "Mitropa" des Bahnhofs aßen wir zu Mittag, ich bestellte immer Schweinebauch, wahrscheinlich aus anerzogener Bescheidenheit, weil er zu den mit Abstand billigsten Gerichten gehörte. Die Kellner begrüßten uns wie alte Bekannte, gaben uns einen Tisch, bei schönem Wetter auch draußen mit Blick auf die im Sonnenglast schimmernden Gleisanlagen, wo es nach den mit Karbolineum getränkten Holzschwellen roch
och, und fragten, ob es wieder Schweinebauch sein solle. Obwohl ausgesprochene Spargelgegend, noch dazu Namen gebend, stand dieses Gemüse hier nicht auf der Speisekarte, auch sonst nirgendwo, es wanderte nach West-Berlin oder wer weiß wohin noch, aber gegen harte Mark, versteht sich, die dem Staat zufloss.Wir wählten nie den Haupteingang, die Löcher in dem Zaun boten eine willkommene Abkürzung in das riesige mit Wald bestandene Areal, in dem neben den Gebäuden der Heilstätten Kasernen der sowjetischen Armee standen. Meine Mutter breitete in der Nähe eines Waldwegs unsere Decke aus, riet mir, weil es heiß war, mein Hemd auszuziehen, und verschwand schnellen Schrittes hinter den Bäumen. Warum wollte sie vorher schon meinen Vater treffen? Ich beobachtete verstohlen die Offiziere mit den tellergroßen Mützen, so grün wie ihre Uniformen, und den vielen bunten Orden auf der Brust, die dadurch noch breiter wirkte, was mich alles sehr beeindruckte. Doch die Männer waren mir fremd und schließlich unheimlich - hörte ich irgendwann russische Worte? - immerhin beschloss ich, meine Mutter zu suchen. Glücklicherweise kehrte sie in dem Augenblick zurück, als ich in mein Hemd gefunden hatte und blindlings loslief, wir hätten uns in dem Wald unweigerlich verloren.Mein Vater, der mir einen aus Kiefernholz geschnitzten Spazierstock mit rundem Knauf schenkte, strich mir über den Kopf und fragte, was ich gegessen hätte. Doch nicht wieder Schweinebauch? Natürlich Schweinebauch, was sonst, lautete die Antwort in das Lachen meines Vaters hinein, der dabei seine silbernen Stiftzähne blitzen ließ.Später bauten wir zu Hause in unserem Garten, der ebenfalls auf sandigem Grund liegt, Spargel an; die Beete ragten kastenförmig etwa kniehoch aus dem Boden. Ich hatte die Erde jeden Tag sorgfältig glatt zu klopfen, damit der winzige Buckel, der den Durchbruch der Spitze anzeigte, bemerkt werden konnte.Die Stängel mussten geerntet werden, bevor sie ihre weiße Noblesse verloren und Farbe bekamen. In den Ferien stach ich mit meinem Vater den Spargel, in aller Frühe schoben wir lange scharfe Messer seitlich in die Beete und versuchten, den richtigen Stängel zu erwischen. Weil Gemüse allein für ein Essen nicht reichte, fuhren wir angeln an den Zeuthener See nach Schmöckwitz. Schmöckwitz war schon Berlin, Ost-Berlin, um genau zu sein, man musste an der Grenze seinen Ausweis zeigen, ich zückte gehorsam meinen Ausweis der Pionierfreundschaft Mao Tse-Tung. Der Soldat winkte mich neben dem Schlagbaum durch, ohne eine Miene zu verziehen.Mein Vater konnte das Rauchen nicht lassen, beim Angeln hielt er fortwährend eine brennende Zigarette im Mund, die Kippe verschwand zischend im trüben Wasser. Bald lagen einige Plötzen und Bleie neben uns im Gras, deren Augen langsam trüb wurden.Ich weiß nicht, was wir falsch machten, jedenfalls ging der Spargelertrag ständig zurück, nach dem Tod meines Vaters haben wir die Beete eingeebnet und Wachsbohnen angebaut. Der alte Spargel jedoch brachte sich Jahr für Jahr mit seinem wehenden grünen Kraut in Erinnerung, das meine Mutter in Blumensträuße band, die sie Bekannten als Geschenk mitbrachte.Viele Jahre danach fuhr ich mit dem Fahrrad durch Berliner Vororte, über Altglienicke, Selchow, Waßmannsdorf nach Großziethen und weiter westlich, in Richtung der Hauptstadt. Nirgends sah ich Reste der Mauer, keine Spur an den Straßen oder Häusern verriet mir, wo genau ich war. Auf dem Weg einer Siedlung spielten Kinder Fußball, ich erkundigte mich, ob ich noch im Osten oder bereits im Westen sei. Vielleicht in Lichtenrade? fragte ich nach. Sie zuckten gelangweilt mit den Schultern und spielten weiter. Unterwegs gab´s überall an kleinen Holzbuden Beelitzer Spargel zu kaufen, so viel, dass man annehmen könnte, Beelitz sei ungefähr so groß wie Berlin, zumindest in der Spargelzeit.Michael G. Fritz ist 1953 in Berlin geboren und lebt als freier Autor in Dresden, hat Romane, Erzählungen und Prosa veröffentlicht. Zuletzt erschien von ihm im Leipziger Reclam Verlag Rosa oder die Liebe zu den Fischen.
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