Spaß im Schmutz

Serie Unseren Kolumnisten stört die Konstruiertheit von „The Sinner“ überhaupt nicht. Spoiler-Anteil: 13 Prozent
Ausgabe 38/2019

Zu Beginn der ersten Staffel setzte es einen grausamen Knalleffekt: Da säbelte Jessica Biel als Cora Tannetti am Strand in Gegenwart von Kind und Mann plötzlich einen Unbekannten nieder. Und das auch noch mit dem Messer, mit dem sie eben noch den Apfel für den Sohn geschnitten hatte. Die Frau sah rot, besprenkelte den Sand großzügig mit Blut, und in den insgesamt acht Folgen, die auf dem Roman Die Sünderin der deutschen Autorin Petra Hammesfahr basierten, ging es dann darum herauszufinden, warum.

Diesem Schema blieb die zweite Staffel (Netflix) dann auch ohne literarisches Vorbild treu. Wieder ging es mit einem Mord los und danach in Who- bzw. Whydunit -Manier um die Lösung des Falls. Warum also serviert der 13-jährige Julian (Elisha Henig) seinen Eltern im Motel auf dem Weg zu den Niagara-Fällen einen Gifttee, der den Erwachsenen ein grausames Ableben inklusive Krämpfen und Schaum vor dem Mund beschert?

Obacht! Denn alleine in dieser den Inhalt aufgreifenden Frage stecken so viele falsche Informationen, dass jedes weitere Wort über die Serie sofort einem Spoiler gleichkäme. Wie die erste Staffel ist auch die zweite ein unterhaltsames und spannendes Lehrstück über unzuverlässiges Erzählen. Wo die Antworten und Wahrheiten in der ersten Staffel häppchenweise im traumatisierten Kopf von Cora Tannetti zu finden waren, spannen Showrunner Derek Simonds und Regisseur Antonio Campos in der zweiten ein komplexeres Opfer-Täter Geflecht mit verschiedenen psychoanalytischen Aufarbeitungen.

Zuvorderst stehen da die Motive von Julian, den Elisha Henig nuanciert zwischen diabolischer Teflon-Mine und infantiler Unschuld verkörpert. Der 14-jährige Schauspieler steht seit seinem achten Lebensjahr auf Theaterbühnen, tauchte in verschiedenen Serien wie Grey’s Anatomy und Mr. Robot als Nebenfigur auf und kann in seiner ersten Hauptrolle zeigen, was der draufhat. Eine wahre Entdeckung!

Der zweite Kopf, in den uns die Serie tiefer hineinblicken lässt, ist der von Detective Harry Ambrose. Da ist er wieder, der von Bill Pullman köstlich grüblerisch und undurchsichtig angelegte Detective, jener ruhige Denker mit Hang zu sexueller Unterwürfigkeit und BDSM, der schon den Fall Tannetti entknotet hat. Dieses Mal wird er von der ermittelnden Polizistin Heather Novack (Natalie Paul) als Unterstützung in das Kaff geholt. Für Ambrose eine Reise in die Vergangenheit, denn er ist in dem Kaff groß geworden und Heather die Tochter des alten Freundes Jack (Tracy Letts), bei dem der Ermittler denn auch nächtigt.

In der zweiten Staffel wird konkreter, was sich in Bezug auf Ambrose und seine dunkle Seite bereits angekündigt hatte: Stille Wasser sind tief. Der Ermittler ist die Konstante, um die herum das The Sinner-Universum physisch und psychologisch zentriert und erweitert wird. Jessica Biel taucht nicht mehr in Persona auf, ist aber als ausführende Produzentin beteiligt.

Der Knoten, der im Laufe der acht Folgen nach und nach gelöst wird, hat es in sich. Ein paar Andeutungen, ohne zuviel zu verraten: Es geht um einen dunklen Kapuzenmann, um eine von einer Frau namens Vera Walker (Carrie Coon) angeführte Aussteigerkommune, einen Guru, um gruselige Reenactments, einen ebenso gruseligen Mondstein, eine Freundschaft zwischen zwei Frauen, die unterschiedliche Absichten verfolgen, versenkte Autos samt Leichen und um gespiegelte Persönlichkeiten.

Das ist viel Stoff! Während der lang gezogenen Auflösung, in der viele, viele Haken geschlagen werden, franst die Erzählung an einigen Stellen aus. Auch das Intrigennetz, das gespannt wird, ist arg konstruiert. Aber sei‘s drum, das ist Teil des Spiels. Den gut geschriebenen Hauptfiguren folgt man jedenfalls gerne hinab auf den schmutzigen Boden der Tatsachen. Und wirklich stark ist, wie mit dichter Inszenierung und gut getimten Wissenshäppchen gerade über die ersten Folgen hinweg der Spannungsbogen aufgebaut und aufrechterhalten wird.

Verpackt in eine Krimihandlung mitPsychothriller-Elementen verhandelt die Staffel Fragen zu Mutterschaft, (falscher) Loyalität, den Geistern der Vergangenheit und lässt in verschiedene Köpfe Blicken. The Sinner ist in Serie gegossene Psychopathologie. Hier wird der „Mindfuck“ nicht als kurzer „Aha“-Effekt genutzt, sondern genüsslich über mehrere Folgen hinweg ausgewalzt.

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