Augusto Pinochet exzerzierte die exemplarische Haltung eines Generals: als Gefahr aufzog, verfügte er sich eilends ins Militär-Hospital. Das war Ende vergangener Woche, als in Santiago durchsickerte, das dafür zuständige Appellationsgericht werde die Immunität des kraft eigener Gnade zum Senator auf Lebenszeit erhobenen und emeritierten Diktators aufheben. Was bedeutet, der mörderische Greis könnte in Chile doch noch für seine Untaten zur Verantwortung gezogen werden. Nun wird wohl der Oberste Gerichtshof als Berufungsinstanz darüber entscheiden, ob auf der Basis von zwischenzeitlich 109 gegen Pinochet eingereichten Strafanzeigen ein Verfahren eröffnet werden kann.
Die tatsächliche Gefahr, dass durch diese Entwicklung die ohnedies fragile demokratische Erneuerung Chiles zu Bruch gehen könnte, stellte sich indes nicht ein. Zwar maulten einige Politiker der pinochetistischen Union Democrata Independiente (UDI), hier habe man es mit einem politischen Racheakt zu tun. Doch ansonsten verhält sich die Rechte des Landes bemerkenswert still. Und das, obwohl sie zuletzt ihre Position in der Wählerschaft gestärkt zu haben schien. Bei den zu Beginn des Jahres vollzogenen Präsidentschaftswahlen unterlag ihr Kandidat Joaquin Lavín nur knapp gegen den von Sozialisten und Christdemokraten gemeinsam ins Rennen geschickten früheren Allende-Gefolgsmann Ricardo Lagos. Dieser Achtungserfolg basierte freilich auf der Taktik, die Pinochet-Ära als weit zurück liegende Episode darzustellen. Der früher als eifriger Pinochet-Apologet hervorgetretene Lavín wollte im Hinblick auf seine künftige Karriere niemanden verschrecken und distanzierte sich mit schleichender Vorsicht vom einstigen Diktator. Die Rechte hatte aus Anlass dieser Wahlkampagne derart heftig Kreide gefressen, dass sie nun nicht mehr Blei spucken konnte. Sie scheint sich in einer Mischung aus Opportunismus und Fatalismus mit dem schmählichen Ende ihres Idols abzufinden. Zudem hatte sie zuvor in dem Bestreben, möglichst breite Unterstützung zu finden, gegen einen drohenden Pinochet-Prozess in Spanien mit dem Argument polemisiert, derlei sei eine Missachtung der chilenischen Souveränität. Und dieses Argument verfängt naturgemäß nicht mehr, sollte über den Täter nun im eigenen Land geurteilt werden.
Gespenstische Ruhe bewahrte auch Pinochets eigentliche Hausmacht: das Militär. Der noch von ihm selbst zu seinem Nachfolger als Oberkommandierender berufene General Ricardo Izurieta berief zwar seine politischen Berater zu sich und äußerte "große Besorgnis" über die neue Lage. Doch es war keineswegs das Pfeifen eines Ängstlichen im Walde, was Präsident Lagos erklären ließ, er schließe jegliche neuerliche Putschabsicht der Militärs aus. Wie überhaupt der Sozialist in seiner bisher noch kurzen Amtszeit als Staatschef kaum eine Gelegenheit verstreichen ließ, ohne der Generalität zu bedeuten, er lasse sich nur äußerst ungern unter Druck setzen.
Es zeigt sich nämlich, wie erkennbar eng der Handlungsspielraum der Uniformierten geworden ist. Wenn sie tatsächlich alles auf eine Karte setzen, könnten sie die Uhren vielleicht noch einmal mit den Spitzen ihrer Bajonette zurückdrehen - doch dann stünden sie ebenso wie die Rechte ohne weitere Optionen da. Der Putsch gegen die Regierung Allende im Jahr 1973 konnte nur deshalb in eine politische Plattform münden, weil die damalige US-Regierung mitspielte. Doch die harsche Reaktion der Clinton-Administration auf die konkurrenzlose Wiederwahl Alberto Fujimoris in Peru lässt auch in Santiago begreifen, in Washington will sich niemand mehr für Brachialmethoden und Autokraten aus dem Fenster hängen. Schon gar nicht in einem Wahljahr. Mehr noch: laut Washington Post erwägt das US-Justizministerium nun ernsthaft, selbst ein Verfahren gegen Pinochet wegen der 1976 in Washington erfolgten Ermordung des vormaligen chilenischen Außenministers Orlando Letelier einzuleiten.
Pinochets Entourage kann sich somit ohne großen intellektuellen Aufwand ausrechnen, dass sie im internationalen Kontext auf keine nennenswerten Bündnispartner mehr zählen kann - und deshalb im Gefolge einer Revolte oder eines Staatsstreichs auch innenpolitisch ohne Erfolgschance bliebe. Eine mögliche Anklage gegen Pinochet könnte allerdings noch in einer anderen Richtung Konsequenzen zeitigen: Jene nämlich, dass auch in anderen lateinamerikanischen Staaten abgehalfterte Militär-Diktatoren endlich zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt vor allem für das Nachbarland Argentinien, wo die jüngste Wendung im Fall Pinochet unmittelbare Perspektiven eröffnet. Seit zehn Jahren untersucht dort die Richterin Maria Servini de Cubria den am 30. September 1974 in Buenos Aires verübten Mord an dem Allende-loyalen chilenischen Armeechef Carlos Prats. Inzwischen scheint hinlänglich klar, dass der Mordbefehl direkt von Pinochet kam. Wenn dessen Immunität nun aufgehoben werden sollte, steht der Richterin die Möglichkeit offen, gegen ihn auch in Argentinien ein Verfahren zu eröffnen. Dies wiederum würde ihr den Zugriff auf die argentinischen Mittäter eröffnen: ausnahmslos Prätorianer jener Clique, die 1976 in diesem Land gleichfalls ein blutiges Obristen-Regime errichtet hatte. Stehen derlei Offiziere erst einmal in Buenos Aires vor Gericht - es käme einem Dammbruch gleich, der weitreichende Folgen hätte. Da trifft es sich gut, dass dieselbe Richterin für 16 von oberen Instanzen niedergehaltene Verfahren zuständig ist, bei denen es um den vom Regime inszenierten Raub von Kleinkindern politisch Verfolgter während der argentinischen Militärdiktatur geht.
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