Späte Verneigung vor einem radikal Modernen

Literatur Der österreichische Staatspreis für Europäische Literatur ging an den Schrifsteller Paul Nizon. Das wurde höchste Zeit, findet unser Autor

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur geht heuer an einen Schweizer. Paul Nizon, der bald 81-jährige Berner, lebt freilich seit Jahrzehnten in der europäischen Hauptstadt schlechthin, in Paris, und gilt als großer Einzelgänger, als Solitär. Überreicht wurde die prestigeträchtige, mit 25 000 Euro dotierte Auszeichnung am 15. November in Wien. Unter den früheren Preisträgern rangieren Größen wie Salman Rushdie, Umberto Eco, Cees Nooteboom, ­Claudio Magris, Jorge Semprun, Agota ­Kristof und A. L. Kennedy.

Im Konzert der europäischen Literatur verfügt Nizon tatsächlich über eine herausragende Stimme. Sein legendäres Roman-Debüt Canto, 1963 im aufstrebenden Suhrkamp-Verlag erschienen, liest sich im Rückblick wie ein poetisches Manifest. Ein Manifest, dem der Autor bis heute treu geblieben ist. Es geht um den kühn gewagten Selbstausdruck eines emphatischen Ichs, das lyrische und epische Töne mischt und zwischen feierlichem Überschwang und vollkommener Entfremdung im Schreiben wohnt. Dieses Ich ist nie bei sich, sondern muss immer Am Schreiben gehen – so der Titel von Nizons Frankfurter Poetikvorlesungen von 1985.

Nizon war nie ein Autor, der schreibt, um Erfundenes beliebt zu machen oder um die Sprache zu beherrschen. Er exponiert vielmehr sich selber als ein der Sprache verfallenes Wesen, das in immer neuen Anläufen die eigene Geschichte erzählt. Wer hergebrachtes Erzählen schätzt, wird hier die gehörige Handlung vermissen, wer politische Orientierung sucht, auf lauter Subjektivität stoßen, und wer nach Identifikation trachtet, wenig erbaut sein. Wer aber wissen will, was es in der Literatur heißt „absolut modern“ zu sein (Rimbaud), der sollte zu Nizon greifen. In Frankreich wird der deutschsprachige Autor ja schon länger gefeiert und gilt als ‚eingemeindet‘. Er betreibt eine ausladende autofiktionale Recherche, die in Form faszinierender Erzählungen erkundet, was über sich selbst zu schreiben bedeutet: „Die in der Sprache zustandekommende Wirklichkeit ist die einzige, die ich kenne und anerkenne. Sie gibt mir das Gefühl, vorhanden und einigermaßen in Übereinstimmung zu sein mit dem, was sich insgeheim wirklich tut.“

Mit seinem Werk steht Paul Nizon in einer Linie von Autoren, die das 20. Jahrhundert zu einem der autobiografischen Selbsterfindung haben werden lassen: Franz Kafka, Robert Musil, Walter Benjamin, Robert Walser, Elias Canetti, Thomas Bernhard.

Nizons Werk ist in der Tat die eigenwillige Beschreibung eines waghalsigen „Poetenlebens“, die exemplarisch die Bedingungen der Möglichkeit einer spätmodernen Schreibexistenz auslotet. Da ist es kein Zufall, wenn Nizon sich als „Schüler Robert Walsers“ sieht. Der tief in seinem Schriftstellerdasein verwurzelte, 1956 verstorbene Autor hat ihn derart fasziniert, dass er sich in jungen Jahren von seinem „inneren Walser“ emanzipieren musste, um als Schriftsteller Fuß fassen zu können.

Der sich abzeichnende Ruhm eines Autors ist das eine. Das andere sind die Bücher, die es zu entdecken gilt. Es sind klingende Titel, die für ein Schreiben stehen, das metaphorischen Esprit, einen ironisch hohen Ton und das Gefühl einer grotesken Verlorenheit zwingend verbindet: Das Jahr der Liebe (1981), Im Bauch des Wals (1989), Das Auge des Kuriers (1994), Hund. Beichte am Mittag (1998) oder Das Fell der Forelle (2005). Nizons vorläufiges Gesamtwerk ist als gewichtiger Quarto-Band greifbar, der anlässlich des achtzigstem Geburtstags des Autors im vergangenen Jahr bei Suhrkamp erschienen ist. Sein nächster Roman ist in Arbeit, Der Nagel im Kopf soll er heißen.

Reto Sorg unterrichtet Neuere deutsche Literatur an der Universität Lausanne und leitet das Robert Walser-Zentrum in Bern

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