A
Austritt Jeder anständige Linke muss einmal aus der SPD ausgetreten sein. Ich war fünf Jahre Sozi, und das kam so: 2009 lag die SPD am Boden, und ich, damals Schüler, dachte: Das darf nicht sein! Meine erste Veranstaltung beim Kreisverband Ulm war ein Neujahrsempfang, und ich stellte fest, dass die meisten Leute hier dem Zustand (➝ Zeit) der Partei glichen: alt, abgekämpft, nur noch aus Tradition dabei. Mein Ortsverein Ulm-Böfingen siechte vor sich hin, sogar außerstande, mit dem Nachbarn Ulm-Mitte zu fusionieren.
Am 1. Mai Bratwurstfolklore neben Kurden und Kommunisten, sentimentale Geschichten. 2013 feuerte ich noch Peer Steinbrück an, danach: rien ne va plus. Das Argument lieferte Sigmar Gabriel höchstselbst: In einer Diskussion zur Mitgliedschaft bei der großen alten Sozialistischen Internationale sagte er, dass Erfolge der Vergangenheit kein Argument für eine verheißungsvolle Zukunft seien. Wie wahr. 2015 also der Austritt. Nach wie kommt der Newsletter „meiner“ MdB. Nachdem wiederholtes Auffordern zum Löschen der Adresse fruchtlos geblieben, landet er im Spam. Leander F. Badura
F
FDP Wo früher zwischen links und rechts ein tiefer Graben verlief, scheint inzwischen großflächig asphaltiert worden zu sein. Dies ist übrigens auch eine der Ursachen für die vielen neuerlichen SPDParteieintritte. Denn anders als früher schafft es die Partei nun, sowohl die Menschen für sich zu begeistern, die kurz zuvor noch Steine gegen das Bankgebäude warfen, als auch solche, die davon nichts mitbekamen, weil sie währenddessen im Inneren des Gebäudes just in einem Meeting saßen. Wie mir ein Neumitglied der Partei, ein ehemaliger FDP-Stammwähler (➝ Austritt) kürzlich berichtete, entstehen so jeden Sonntag beim Plakatekleben im SPD-Ortsverein unwahrscheinliche Komplizenschaften. Einer politischen Regel folgend, gemäß der am meisten zählt, der einer Überzeugung schon von jeher anzuhängen scheint, sind alle bemüht, sich gegenseitig ihre Herkunft zu verschweigen und sich so zu kleiden wie der Mann auf den Plakaten. Ein wenig so wie Martin Schulz, nur ohne Anzug. Tilman Ezra Mühlenberg
J
Jahreshauptversammlung Sonst lästiger Pflichttermin, ist sie beim Ortsverein tatsächlich die Zusammenkunft des Jahres. Es gilt, den Vorstand und seinen Vorsitzenden zu wählen und Delegierte für Gremien zu bestimmen. Der Ort, so ist das und so bleibt das, ist das Hinterzimmer eines Restaurants oder das Vereinsheim (➝ Wimpel) eines Genossen, der einen kennt, der jemanden kennt (ist dann günstiger).
Ab und zu wird ein Abgeordneter eingeladen, um der Basis zu berichten, was die da oben so machen. Es gibt denkwürdige Sitzungen, bei denen Genossen auftauchen, die Jahrzehnte nicht mehr gesehen wurden, nur um genau jetzt und aus einem lange zurückliegenden Grund, Leute zu stürzen. Die Genossen haben viele Fragen, nicht immer können zufriedenstellende Antworten gegeben werden. Timon Karl Kaleyta
K
Kugelschreiber Spricht man mit engagierten SPD-Mitgliedern, hört man es immer wieder: Im Straßenwahlkampf entscheidet nichts so sehr über Wohl und Wehe der Partei wie die Qualität der Kugelschreiber. Mit 0,12 Cent pro Stück (geschätzt) ist dieses Utensil zentraler Bestandteil jeder Überzeugungsarbeit, schließlich schreibt jeder irgendwann mal irgendwas, und in der Reihe vollkommen unnützer Werbegeschenke ist der Kugelschreiber das mit Abstand nützlichste. Gemeinhin gilt: Wer Broschüren, also parteipolitische Inhalte, erfolgreich an den Mann bringen will, braucht dafür vor allem Kugelschreiber. Ohne sie geht nichts, sie sind Anfang und Ende jeder Kommunikation mit dem Wähler: „Und am Sonntag das Kreuzchen an der richtigen Stelle machen. Mit dem Stift geht es noch besser“, lernt jeder SPD-Neuling an seinem ersten freiwilligen Arbeitstag. Wer an der Qualität der Kugelschreiber spart, spart am falschen Ende, die Leute merken so was – und so kann ein billiger Kugelschreiber mehr Stimmen kosten als jede unbedachte Äußerung des Kandidaten. Alexander Böhm, Timon Karl Kaleyta
P
Parteibuch Genau wie der ➝ Wimpel ist auch das Parteibuch schon lange nicht mehr zeitgemäß. Mitgliedschaften werden heute entweder (noch) per Mitgliedskarte (ADAC) oder direkt per Paypal (Netflix) dokumentiert. Das Parteibuch der SPD aber ist 150 Jahre alt und wird nicht verändert, es widersteht dem Zeitgeist und entspricht voll und ganz der zentralen Überlebensregel jedes Ortsvereins, die da lautet: „Das ändern wir nicht, das haben wir schon immer so gemacht.“
In Freiburg, hieß es jüngst, habe der unerwartete Martin-Schulz-Mitgliederboom alle dermaßen überrascht, dass Parteibücher von fleißigen Genossinnen und Genossen handgebastelt nachgelegt werden mussten. Bei Ortsvereinsversammlungen wird noch heute das Parteibuch als Ausweis der Zugehörigkeit verlangt, erst dann darf man wählen, und kommt einmal die Prominenz aus Berlin (➝ Jahreshauptversammlung), dient es als nützliches Autogrammsammelheft. Sicher und voller Stolz wird es ein Leben lang zu Hause aufbewahrt, und da es nicht in die Geldbörse passt, geht es in den seltensten Fällen verloren. Sein Inhalt ist so unspektakulär wie der eines Sparbuchs, obgleich, geht es einmal verloren, sein Verlust ungleich schwerer wiegt. Timon Karl Kaleyta
S
Schriftführer Wer schreibt, der bleibt und treibt … die Partei bisweilen regelrecht vor sich her! Doch relativ klein beginnt die Parteikarriere in den allermeisten Fällen in der vergleichsweise unbedeutenden Position des Schriftführers. Dabei kann der Schriftführer durch eine reflektierte Art und Weise seiner Dokumentation von Sitzungen und Diskussionen den politischen Diskurs seines Ortsvereines durchaus mitgestalten. Eine Sitzung des Vorstands zeichnet sich dadurch aus, dass wegweisende Beschlüsse gefasst, wichtige Themen diskutiert und Entscheidungen gefällt werden. Dies gilt es zu dokumentieren und für die Nachwelt zu archivieren. Nicht umsonst heißt es immer wieder mahnend „an die da oben“, dass bereits kleinste Veränderungen an der Basis das gesamte System durcheinanderbringen können.
Selten gibt es in dieser Funktion Kampfkandidaturen, dem Neuling wird der Aufstieg hier zum ersten-letzten Mal leicht gemacht. Da aber eine funktionierende Demokratie mit ihrem von unkundiger Seite stets zu Unrecht geschmähten Verwaltungsapparat in erster Linie auf eine verlässliche Schriftführung vertrauen muss, hätte jeder Schriftführer von Anfang an einen Orden verdient. Erfolgreiche Sozialdemokraten blicken meist wehmütig auf ihre Zeit in dieser Position zurück, und es soll (meist weniger erfolgreiche) Genossen geben, die ihren Fundus an Protokollen aus 40 Jahren Parteigeschehen (➝ Senioren) wie einen Augapfel hüten. Timon Karl Kaleyta, Alexander Böhm
Senioren Als meine Oma 1981 in Pension ging, fing sie bald an, sich zu langweilen. Deshalb baute sie 1987 erst einmal ein Haus, zog aus Berlin nach Ahrensburg bei Hamburg. Dann starb Opa. Oma kaufte einen Hund, gründete Anfang der 1990er eine Initiative für Flüchtlingshilfe mit.
Dann wurde sie Mitglied im örtlichen SPD-Ortsverein (➝ Parteibuch). Der bestand zu großen Teilen aus Lehrern wie ihr, viele noch im Dienst, aber meist über 50, das übliche Outfit: Karohemd und Eccoschuhe. Oma legte sich nach und nach einen Satz roter Blusen und Pullover für SPD-Anlässe zu. Sie hatte keine besondere politische Agenda, sondern organisierte vor allem Seniorenpartys, Kinder- und Grillfeste. Weil mein Bruder und ich zwischenzeitlich bei ihr aufwuchsen, sollten wir immer mit. Der Bruder streikte irgendwann, ich tat ihr den Gefallen. Beim letzten Wahlkampf von Heide Simonis verteilte ich sogar rote HEIDE!-Schals. Und schüttelte einmal Heide Simonis’ Hand. Nur als Oma, die alte Musiklehrerin, einen fast nur aus älteren Genossinnen bestehenden Chor gründete, der zu ihrer Begleitung auf unserem weißen Yamaha-Digitalflügel Arbeiterlieder schmetterte, hielt ich mich erfolgreich heraus. Sophie Elmenthaler
T
the_schulz Martin Schulz ist Kanzlerkandidat, und die SPD befindet sich in kollektivem Freudentaumel. Aber nur eine kleine Gruppe Vorzeigeeuropäer im Internet hat begriffen, welches Potenzial Schulz tatsächlich besitzt. Denn Martin Schulz ist nicht nur irgendein Kanzlerkandidat. Er ist der Gottkanzler, der Europa-Jesus, der letzte Held der Sozialdemokratie.
Die Reddit-Seite the_schulz ist nicht nur der am schnellsten wachsende Ortsverein Deutschlands, sondern auch der passionierteste. So haben seine Unterstützer Schulz’ Wahlkampf schon bis ins Detail durchgeplant: Unter dem Slogan „Make Europe Great Again“, kurz MEGA, wird der Schulz-Zug ungebremst an der von Panik getriebenen Union vorbeiziehen, die Bremsklötze von der AfD abschütteln, die absolute Mehrheit holen und nebenbei kurz noch mal die gespaltene EU vereinen. Klingt unmöglich? Nicht für Martin Schulz. Die Wahlplakate sind gedruckt (➝ FDP), selbst einen Wahlkampfsong, das Schulzzuglied, gibt es schon. „Semi-ernste Satire“ nennen die Betreiber der Seite das. Dem Gottkanzler selbst sind die Mühen seines fleißigsten Ortsvereins natürlich nicht verborgen geblieben. Mit einer Videobotschaft bedankte er sich bei den „Reddit-Usern“ für die „Welle“ an Unterstützung, die sie losgetreten hätten. Martin Schulz, ein Gott des Volkes eben. Simon Schaffhöfer
W
Wimpel Der dem Ritterschild entlehnte Wimpel ist ein Relikt aus alter, vormoderner Zeit – also geradezu unverzichtbar für jeden funktionierenden Ortsverein. Heute, in der heißen Phase „identitärer“ Politik, in der jedes Individuum seine eigene Peergroup darstellt, bräuchte es für jeden Einzelnen eigentlich einen ganz eigenen Wimpel, doch das ist in der SPD erst einmal noch egal, also verrichtet der sozialdemokratische Wimpel weiterhin seine gleichmachenden Dienste und führt Genossinnen und Genossen seit Jahr und Tag unter dem wärmenden Dach des demokratischen Sozialismus einer strahlenden Zukunft entgegen. Genau einmal im Jahr wird er de facto gebraucht, um bei der ➝ Jahreshauptversammlung klarzustellen, wessen Veranstaltung das hier überhaupt ist. Selbstvergewisserung in unruhigen Zeiten! Zwölf Monate lang liegt er zuvor gut und sicher verstaut in einem Karton (➝ Parteibuch, Kugelschreiber), und nur ein Genosse erinnert sich stets daran, in welchem Karton er nun wo genau liegt. Der Genosse holt den Wimpel, die Jahreshauptversammlung kann beginnen. Alexander Böhm, Philipp Tacer, Timon Karl Kaleyta
Z
Zeit In Engers, einem Ort bei Koblenz, hat der Ortsverein einmal im Jahr einen großen Auftritt: Auf dem Weihnachtsmarkt wird der selbst gestaltete Heimatkalender verkauft. Bauern mit Sensen, Arbeiter in der Straßenbahn und Karnevalstollitäten sind da zu bestaunen. Früher, will die SPD sagen, war nicht alles besser, dafür handfester, ehrlicher. Noch heute sehen SPD-Leute den Personen auf den alten Fotos frappierend ähnlich – sie sind weit entfernt von der Liga der Gentlemen um Gerhard Schröder und Sigmar Gabriel. Kurt Beck könnte, nicht zwingend wegen seiner Politik, eines Tages in einen solchen Kalender aufgenommen werden. Auf einem der Fotos sieht ein Mann aus wie Martin Schulz ohne Anzug. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen für die SPD. Wolfgang M. Schmitt
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