Speichel

Linksbündig Milan Kundera wird nicht ewig schweigen können

In bestimmten Situationen kann die Berühmtheit einer Person bewirken, dass Menschen aus ihrem Umkreis, von denen bislang keiner etwas wusste, plötzlich ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten. So verhält es sich mit der des Schriftstellers Milan Kundera und dem seit mehreren Wochen nicht nachlassenden Interesse des Feuilletons an Handlungsweisen einiger Personen in einer weit zurückliegenden Zeit, in der Kundera selbst noch ein junger Student von 21 Jahren war. Es geht um Kunderas Altersgenossen Miroslav Dvorácek, Iva Militká und Miroslav Dlask. 1950 kreuzten sich in Prag ihre Wege, mit tragischen Konsequenzen für Dvorácek.

Die ersten Jahre nach dem KP - Putsch in der Tschechoslowakei im Februar 1948 standen im Zeichen des "verschärften Klassenkampfs". Sie können ohne Übertreibung als die eines grausamen Staatsterrors bezeichnet werden. Tausende Menschen wurden in Arbeitslager gebracht, viele verloren ihr Leben. Dvorácek war ein in den "Westen" geflüchteter Armeedeserteur. Das plötzliche Auftauchen des antikommunistischen Widerständlers muss in dem Moment bei denen, die wussten, wer er war, eine unermessliche Angst, fieberhaften Jagdinstinkt oder beides zusammen ausgelöst haben.

Wer bei der Polizei so einen anzeigte - was Kundera getan haben soll - dem muss klar gewesen sein, auch mit 21 Jahren, dass er ihn ans Messer lieferte. In der damaligen Zeit durchaus wörtlich zu nehmen. Die gängige Hinrichtungsart war Tod durch den Strang, und der hing eine ganze Weile über Dvoráceks Kopf, bis er schließlich "nur" zu 22 Jahren schwerer Kerkerhaft verurteilt wurde, von denen er 14 in den Arbeitslagern der böhmischen Uranbergwerke verbrachte.

Kundera hat die von einem Polizeidokument aus dem Jahre 1950 abgeleitete Anschuldigung vehement zurückgewiesen und gesagt, er habe Dvorácek nicht gekannt und auch nicht Iva Militká und Jaroslav Dlask. Der Vorwurf lastet schwer auf einem Menschen, der jahrzehntelang als moralische Autorität wahrgenommen wurde. In Prag wurde aber inzwischen nachgelegt, wiederum von der Zeitschrift Respekt, dem Ursprung der reißerisch präsentierten Anschuldigung (Freitag 43/08). In schönstem Faksimile konnte man da eine Ausgabe von Kunderas parteiloyaler Lyrik mit dem Titel: Oh Mensch, du weiter Garten, bewundern, Kunderas Erstlingswerk von 1953. Darin ist eine persönliche Widmung zu lesen: "Für Mirek, Iva zur Erinnerung (keineswegs zum Lesen) Milan." Offenbar kannte er sie also doch.

Kundera schweigt. Von Zeit zu Zeit lässt er aber andere sprechen. So berichtete zu Beginn der Affäre der Kunsthistoriker Zdenek Pešat, Kundera hätte ihm in einem Telefonat gesagt, die Verhältnisse in den frühen fünfziger Jahre unter der damaligen Diktatur seien für die heutigen Zeitgenossen inzwischen so weit entfernt und unverständlich, dass es keinen Sinn habe, sie zu erklären, weil das sowieso keiner mehr verstehen könne.

Und Kunderas langjähriger Freund, der Schriftsteller Petr Prouza, berichtete kürzlich von einem Treffen mit dem in Paris lebenden Kollegen. Kundera wolle die ihm noch verbleibende Lebenszeit für einen neuen Roman verwenden, statt sich in gerichtlichen Auseinandersetzungen mit Respekt aufzureiben. Der "giftige Speichel", bleibe so oder so an ihm kleben, egal, was noch passiere. Doch vielleicht hatte sich Kundera mit seinem "letzten Roman" ursprünglich etwas ganz anderes vorgenommen, als sich schon wieder mit der unerklärlichen Einsamkeit einer unverständlichen, weil weit entrückten Zeit der stalinistischen Diktatur zu befassen. Und nun, eingeholt von der Vergangenheit, der Enge seiner böhmischen Heimat und gedrängt vom geschärften Langzeitgedächtnis des beinah Achtzigjährigen wird er uns, gleichgültig, was er 1950 tat oder nicht tat, vielleicht doch noch einmal alles erklären müssen.

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