Dreißigtausend Leipziger können nicht irren. So viele Besucher sahen letzten Herbst die Ausstellung Mauersprünge/Klopfzeichen - Kunst und Kultur der achtziger Jahre in Deutschland in der Heldenstadt der Einheit. In Essen, wo das Gemeinschaftsprojekt des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig mit der Bundeszentrale für Deutsche Bildung anschließend gezeigt wurde, kamen nicht mal ein Drittel so viele Besucher. In Berlin war ich drei Tage nach der Eröffnung fast der einzige »Mauerspringer« im Obergeschoss des Gropius-Baues, während sich unten ganze Schulklassen durch die archäologische Sensationsshow Menschen-Zeiten-Räume wälzten.
Im Puppenheim des Leipziger Geschichtsforums hatte mich damals angesichts der räumlichen Enge dieser ne
;umlichen Enge dieser neudeutschen Devotionalienmesse die Platzangst überfallen. Erst in Berlin wurde mir, durch gähnende Menschenleere und preußische Raummaße, der methodisch-enge Horizontalblick dieser Rumpelkammer-Ausstellung über den Kulturaustausch beider deutscher Staaten in den achtziger Jahren bewusst. Zumal hier die in Leipzig und Essen dazugehörige Kunstsammlung Wahnzimmer fehlt. Sie gab umfassend durch kluge Kontrastierung die Parallelen ost- und westdeutscher bildender Kunst wieder. Die Kuratoren Eckhart Gillen und Eugen Blume verstanden ihre Arbeit auch als Antwort auf die fragwürdige, aber medienwirksame Weimarer Bildershow Aufstieg und Fall der Moderne (1999), wo DDR-Auftragskunst und Hitlers private Kunstsammlung in den Kontext von Leinwand-Schmiererei gleichgesetzt worden waren. Ohne Polemik und Siegerpose zeigten die beiden Sinnstifter des Wahnzimmers, dass die Malkunst der Deutschen auch unterm geteilten Himmel eins war; eingekeilt zwischen Konvention und Avantgarde, Atelier und Politik, Beckmann und Beuys. Dass etliche als Westkünstler bekannte Namen aus dem Osten stammen, mag interpretieren, wer will. Joseph Beuys meinte in seiner schamanischen Lust am Rätselhaften: »Es gibt Leute, die sind nur in der DDR gut.« Die kühne Behauptung, deren Beweisführung paradox scheint, trifft wohl weniger auf das malerische Künstler-Personal zu, als auf die Exponenten des Wortes und der Gitarre, denen diese »Messe der Meister von Gestern« gewidmet ist. Schon beim Eintritt wird dem Besucher auf schallende Art klargemacht, das der deutsche Dialog über Mauer und Stacheldraht hinweg mit Wolf Biermann beginnt und endet. Obwohl unser unvergessliches enfant perdu schon 1976 hinübergemacht ist, schwebt er wie der heilige Geist über den Untiefen der achtziger-Jahre-Nabelschau. Wer ihn nicht sehen will auf Plakaten, Fotos, Stasi-Dossiers, muss ihn hören. Auf seinem mit pappigem Mauersegment wiedervereinten Arbeitstisch liegen zwei seiner frühen Werke diebstahlsicher angekettet. Hier hätten die Kuratoren ruhig zur Selbstbedienung auffordern können, die Berliner Antiquariate sind voll mit Biermanns Büchern, seit er im Spiegel zur Solidarität mit Georg W. Bush aufrief. Doch die Ausstellung hat noch mehr übliche Verdächtige im Visier, die man, wie den römischen Feldherrn Lukullus zum ewigen Vergessen verurteilten möchte. Wo der unvermeidliche Wolf ist, ist Sascha »Arschloch« Anderson nicht weit. Man findet ihn in einem Dr. Caligari nachempfundenen Gruselkabinett, das die Stasi-Allmacht als Labyrinth darstellen soll. Hier wird die DDR-Realität mit kafkaesker Klaustrophobie aufgeladen. Doch jeder weiß längst, dass Mielkes Milchmänner Teil eines integralen Systems waren, indem Täter und Opfer als Komplizen agierten - und das durch ein mutiges »Das tut man nicht!« straflos, wenn auch nicht karriereförderlich, zu durchbrechen war. Schwerer entkommen konnten die Filmemacher der DEFA den Zwängen der Kulturpolitik. Da war durch Lenins fatale Lobrede »Der Film, wichtigste aller Künste« wenig Spielraum für Experimente und schlichte Wahrheiten. Trotzdem wird man der DEFA-Wirklichkeit nicht gerecht, indem man nur Frank Beyers und Egon Günthers Schaffen würdigt beziehungsweise jene Schauspieler, die aus Solidarität mit Biermann ihre Karrieren im Osten hinschmissen. Immerhin gibt es was zu sehen, Standfotos, Filmausschnitte und die Budjonny-Mütze Hilmar Thates aus Müllers Zement. Fast alle Ausstellungsdinge kommen aus dem Privatbesitz der Ausgestellten, sind also mit Bedeutung aufgeladene Objekte subjektiver Erinnerung an einen Lebensfilm, der ständig im Gehirn ummontiert wird, ohne je fertig zu werden - hier aber als konsequente Regieleistung mit linearem Drehbuch präsentiert wird. Es stellt sich die Frage, ob nicht jeder Bürger aus demokratischen Gründen sein persönliches Mauer-Museum haben sollte. Es würde sicher ein ganz anderes, schräges und uneitles Bild der deutschen Teilung ergeben. Klar, dass die Leihgeber nichts Kompromittierendes aus ihrer patriotischen Hauspostille vorzeigen, sie wurden nicht dazu ermutigt. Da müssen wir private Korrespondenzen an die lieben Kollegen im Westen mitlesen und blaue Briefe von Hager und Kant an die durchgefallenen Musterschüler im Fach Staatsräson. Die Kunst des inneren Vorbehalts, die Czeslaw Milosz schon 1953 als Selbstbetrug östlicher Intellektueller enttarnte, spiegeln diese Schriftproben allemal wieder, doch was haben die gesammelten Irrtümer sonst noch für einen Wert? Die DDR ist tot und mit ihr die Argumente jener, die sie sich schönschrieben. Ihre früher oder später im Westen erschienenen Bücher geben ein besseres Zeugnis von dem, was der polnische Dichter Adam Mickiewicz über sein Exil schrieb: »Er hatte kein Glück, denn in seinem Land gab es kein Glück». Wer die DDR zu spät und mit Wut verließ, wie Fuchs, Kunze, Loest, Matthies, Schlesinger, schrieb verzweifelt gegen sie an, weil er in Freiheit kein stärkeres Thema fand. Wer blieb, schrieb mit dem Rücken zur Wand und suchte, wie Drawert, Endler, Opitz, Papenfuß, Abstand zu gewinnen von Tagespolitik und Erfolgsökonomie. Er wurde stärker und beweglicher wie der »Gefesselte« in Ilse Aichingers Parabel der Unfreiheit. Doch da waren auch jene, die hüben wie drüben die Welt in der Tasche hatten und zu groß waren für die geistige Enge deutscher Verhältnisse, Brasch, Braun, Hilbig, Lange-Müller, Wolf, um sich allein an ihnen messen zu lassen. Kritische Literatur ist ja nicht nur der Reflex auf die Prosa unsäglicher Zustände, sie ist auch die Unfähigkeit, zu allem anderen zu schweigen. Die DDR war kein arkadisches Leseland, aber ein Ort, wo Dichter öffentlich wahrgenommen wurden und allzu wichtig waren fürs tägliche Wohl von Staat und Volk. Warum die nostalgische Buchmesse im Gropiusbau außer Grass und Walser kaum echte Westautoren präsentiert, bleibt rätselhaft. Vielleicht, weil sich BRD-kritische Autoren wie Böll, Buch, Enzensberger, Kroetz nicht dauernd mit dem Gedanken der Wiedervereinigung rumquälten und den Verwaltern des DDR-Schrifttums nicht genügend um den Bart gingen. So entsteht der Eindruck, als wäre der Gedanke an ganz Deutschland nur von vertriebenen und gebliebenen Ostexperten am Leben erhalten worden. Als sei die gewaltsame Abgrenzung nach dem Mauerbau nur eine Sache der DDR-Führung gewesen und nicht der Weltpolitik. Und das Scheitern dieser Grenze nur das Verdienst der Künstler, nicht auch der politischen Vernunft der Regierungen und der Unvernunft ideeller und materieller Familienbande. Man muss, wie Joseph Beuys sagte, immer auf der Suche nach dem Dümmsten sein, um klüger zu werden. Die im Stil von FDJ-Wandzeitungen und Vereinsblättern Heimatvertriebener zusammengewürfelten Exponate der Mauersprünge erwecken den Eindruck, die Kuratoren haben einen Sprung in der Schüssel. Da stellen sie ein aus DDR-Fahnenstoff genähtes Hemd von Wolfgang Niedecken, Frontman der Köllner Rockband BAP, als Ikone der Einheit in die Vitrine und Goldene Scheiben der DDR-Beatgruppen City und Silly dazu. Doch die Pop-Stars hüben wie drüben sangen nicht lautstark gegen die Mauer an, sie fanden, wie ich als DEFA-Szenarist übrigens auch, zwei Deutschlands Okay, und wollten im ganzen Land populär und reich werden. Selbstredend darf die Lederjacke von »Uns Udo« nicht fehlen, die er »Honni« schenkte, und Honeckers Schalmei, mit der er in seiner Jugend den Saarländern den Marsch blies. Dieses Jointventure hat weder die Musik Lindenbergs inspiriert, noch die Anzugordnung des Politbüros reformiert. Derart hilflos waren die offiziellen Handreichungen über die Mauer, dass sie im Nachhinein nicht zersetzender werden. Diese Aufgabe blieb klügeren Köpfen vorbehalten, die wie Klaus Staeck und Manfred Butzmann politische Plakatkunst zu ihrem Beruf machten. Für eine Staeck-Ausstellung in Ostberlin entwarf der Pankower Umweltaktivist Butzmann ein Poster, auf dem stand: »Die Gedanken sind frei, vom 3.12. bis zum 19.12. 1981«. Es wurde verboten, doch Staeck durfte in der DDR ausstellen und sogar verkaufen. Bei ostdeutschen Künstlerkollegen machte er sich unbeliebt, als er ihnen vorwarf, dass sie sich im Westen eher rechts als links verhielten. Hier zeigt das schwarz-rot-goldene Familienalbum unschöne Flecke, doch wen interessiert´s noch, wo wir längst alle Individualisten geworden sind und den Tag der Einheit vergäßen, wäre da nicht das Fernsehen. Seine Allmacht wird einseitig auf die »objektive Berichterstattung« von ARD/ZDF über die DDR reduziert, statt auch die Infiltration durchs Adlershofer Sandmännchen, den UFA-Montagsfilm und Polizeiruf 110 zu würdigen. Die Medien haben die Mauer zu Fall gebracht durch gezielte Desinformation, aber die Exposition verniedlicht den Kalten Krieg im Äther mit dem DDR-typischen Wohnzimmer-Puschenkino vom Sperrmüll. Die letzte Wand zieren Bücher junger Autoren in Plastiktüten. Wenigstens findet sich darunter Wolfgang Englers Bestseller Die Ostdeutschen, der allen Heutigen anschaulicher und amüsanter den himmelweiten Unterschied von gestern erklärt und ahnen lässt, warum wir so schwer ein einig Volk werden. Eine ärgerliche Museumsgabe? 30.000 Leipziger können nicht irren. Oder doch?
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