Wer würde diesen Mann kennen, gäbe es die Pandemie nicht? Schwer zu sagen, aber seine Talkshow-Frequenz wäre sicher niedriger. Jetzt aber ist Corona, und so kommt es, dass Helge Braun dem Land vertraut geworden ist, dessen Kanzlerinnenamt er leitet.
Erst vor knapp zwei Wochen saß der CDU-Mann wieder bei Anne Will, als sei er dazu geboren, auf einem Sack voller ungelöster Probleme zu thronen, die er partout nicht entweichen lassen will. Dazu hat die Natur (oder gar die eigene Absicht?) dem Hessen einen Gesichtsausdruck verliehen, bei dem nie ganz klar scheint, ob er nur staunt oder auch lächelt. So ließ der 49-Jährige die Kritik an der Corona-App, dem Impfchaos und dem Hickhack um Lockdown und Lockerungen über sich ergehen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Nur einmal, als die Vorwürfe zu sehr in pauschale Häme abzugleiten drohten, blitzte Schärfe auf. „Jetzt kommen wir langsam ins Unterholz“, warf er kurz ein, und tatsächlich: Die allzu schrillen Töne verstummten.
In solchen Momenten lässt sich erahnen, warum Angela Merkel den Arzt aus Gießen vor drei Jahren zum Kanzleramtsminister machte. Braun ist, bei allen Unterschieden in Physiognomie und Habitus, so etwas wie die zweite Verkörperung des Merkelismus neben der Kanzlerin selbst. Die nach außen unerschütterliche Ruhe, verbunden mit wohldosierten Momenten demonstrativer Entschiedenheit – das ist genau die Mischung, die den Stil der ganzen Ära Merkel geprägt hat.
Biografisch verbindet die Kanzlerin und ihren Minister nicht viel außer dem naturwissenschaftlichen Zugang zur Welt. Der Physikerin aus dem Osten, der sicher niemand übertriebene Geselligkeit und Genussfreude unterstellen würde, steht der in seiner mittelhessischen Heimatstadt Gießen tief verwurzelte Sohn eines Gynäkologen und einer Lehrerin gegenüber. Aber gemeinsam ist beiden ein sprichwörtlicher Fleiß und die Prise Humor, die im Arbeitsalltag viel wirksamer sein dürfte als im öffentlichen Auftritt. Nicht zu vergessen das Fehlen von Eitelkeit und Imponiergehabe, das beiden zu dem großen Vorteil gereicht, unterschätzt zu werden.
Unterschätzungsgefahr besteht allerdings auch, was inhaltliche Grundeinstellungen betrifft. Dass sich bei Merkel hinter dem Image der „Kanzlerin für alle“ eine marktliberale Ideologie verbirgt, wird zwar in weiten Teilen der Öffentlichkeit ignoriert, ist aber deshalb noch lange nicht falsch. Bei Helge Braun gibt es jenseits von Corona nicht sehr viel Inhaltliches, abgesehen von einer Äußerung zur Schuldenbremse, die es allerdings in sich hat.
Braun habe das zentrale Instrument des Sparzwangs infrage gestellt, hieß es oft, aber bei genauem Hinsehen lässt sich das Ganze auch anders lesen: Der Kanzleramtsminister forderte nichts weniger, als im Grundgesetz festzuschreiben, wann das investitionshemmende Kreditverbot wieder einzuhalten sei. Also: die Schuldenbremse auf Dauer zu retten.
Die ehemalige Bildungsministerin Annette Schavan hatte den Abgeordneten 2009 als Staatssekretär in ihr Haus geholt. Im Kanzleramt wirkte er von 2013 an zunächst als Staatsminister und „durfte“ die Flüchtlingspolitik koordinieren. Und jetzt, seit der Beförderung zum Chef der Merkel-Behörde, soll Braun die Regierungsarbeit nicht nur zwischen den Ressorts im Bund sowie zwischen Bund und Ländern koordinieren, sondern auch noch das Thema Digitalisierung. Er tut das mit großem Engagement und durchaus kenntnisreich – woran sich allerdings vor allem ablesen lässt, wie wenig man in Deutschland mit viel Arbeit erreichen kann.
„Daran müssen wir arbeiten“, pflegt die Kanzlerin zu sagen, wenn Versäumnisse zur Sprache kommen – als hätte sie nicht in den vergangenen 15 Jahren selbst regiert. Ihr Namensvetter, der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel, hat das einmal so beschrieben: „Es ist geradezu eine Strategie der Kanzlerin geworden, Probleme auszusitzen und nicht zu thematisieren (…), also nicht die Bürgerinnen und Bürger in die Debatte und den demokratischen Streit einzuführen und hineinzuziehen, sondern sie eher zu sedieren.“ Und genau dafür war neben ihr kaum jemand so geeignet wie der gemütlich wirkende Doktor Helge Braun, Spezialgebiet: Anästhesie.
Das Problem – oder doch eigentlich die gute Nachricht: Die Stillstands-Strategie funktioniert nicht mehr, und auch das lässt sich am Kanzleramtsminister gut studieren.
Eigentlich war es schon im Herbst der Geflüchteten 2015 mit der Gemütlichkeit vorbei. Und das zu Recht, auch wenn die Quittung für das lange Verdrängen globaler Krisen leider nicht in einer starken linken Bewegung bestand, sondern im Aufstieg der AfD. Aber 2020, am Anfang der Pandemie, sah es noch ganz gut aus für das Anästhesie-Team Merkel/Braun. Die Kanzlerin schien das Publikum mit mütterlichen Solidaritätsappellen wieder ruhigstellen zu können. Aber mit der Zeit verpuffte die Wirkung der warmen Worte angesichts der ganz realen Unfähigkeit, eine stringente Eindämmungspolitik zu entwerfen.
Es wirkte wie ein ungewolltes Eingeständnis des Scheiterns, als Braun jetzt bei Anne Will auf die Ausstattung der Gesundheitsämter mit einer gemeinsamen Software zu sprechen kam: „Daran arbeite ich seit einem Jahr“, seufzte er – gerade so, als hätten er und seine Chefin mit dem jahrelangen Digitalisierungsstau und dem Kaputtsparen der Ämter nichts zu tun.
Und jetzt? Helge Braun zieht weiter durch die Talkshows, aber die personifizierte Politik der ruhigen Hand wird angesichts offensichtlichen Regierungsversagens zur Karikatur. Und die Spekulationen, wonach Braun demnächst dem hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier nachfolgen könnte, sind in den Schubladen verschwunden.
Kommentare 10
Was die meisten entscheidenden Gesichtspunkte des Textes angeht: Zustimmung.
An einem wichtigen Punkt fehlt mir jedoch die tiefergehende Beleuchtung einer Frage: wieso sind in diesen Tagen Menschen wie Helge Braun derart erfolgreich = wirkungsvoll?
Selbst bei mir bemerke ich: weit davon entfernt, CDU-nah zu stehen, würde ich mich sofort von Helge Braun sedieren lassen. Seine knuffige Harmlosigkeit - auf der Erscheinungsebene - ist entwaffnend. Und wie w (s)ollen wir uns ohne Waffen (auch sprachliche) streiten?
was hätte merkel an einem quecksilbrigen, eigen-ständigen
ideen-geber, der sich zu inszenieren weiß ?
die macht-zentrale benötigt wellen-brecher.
besser: un-tiefe sandbänke, an denen grollende wellen auflaufen.
Wie ich eben gerade hörte, soll es ein Leben neben der Großen Sedierung geben. Herr Söder (alias Ludwig reloaded) fordert "neue Köpfe" in der Union.
Das verstehe, wer will. Seit wann braucht denn die Union Köpfe? Das bevorzugte Körperteil ist doch spätestens seit "Bimbes" Kohl, ganz besonders seit dessen Mädchen ... erraten ... das Hinterteil. Zum Breitsitzen.
Einfach mal auf die führenden ... hm ... Köpfe achten. ^.^
Frei nach Loriot stimmt da wohl mit Ihrem Gefühl etwas nicht. :-)
Also meine natürliche Reaktion, wenn ich dieses fette Honigkuchenpferd grinsen sehe, ist nur schwer zu kontrollierender Zorn! Bisher ist es mir gelungen, mein TV-Gerät nicht physisch zu bestrafen durch einen etwaigen Fensterwurf, zum Beispiel. Das halte ich aber für denkbar, zumal man bei einem nicht mehr vorhandenen TV-Gerät sicher überhaupt nichts vermissen, sondern vermutlich ein Mehr an Lebensqualität fühlen würde.
So etwas gibt's auch nur unter Merkel: Der Typ hat schon die Flüchtlingskrise vergeigt bzw. einfach die Länder und Kommunen im Regen stehen lassen, und zum Dank wurde er Minister. Das erinnert auch an Flintenuschi, die nach oben weggelobt wurde.
Und diese zwei VollversagerInnen vergeigen nun (neben Spahn und den MP's) auch noch das Pandemiemanagement. Konnte ja keiner ahnen, dass die nichts können...
Danke für Ihre offenen Worte aus dem Nähkästchen.
Was das eigene Gefühl angeht: wohl wahr. Da stimmt etwas nicht. Bislang begrenzte sich das auf Frauen. Jetzt auch noch bei Kerlen. Nee, nee, nee.
Ich wäre schon fast froh, wenn es mir ähnlich wie Ihnen ginge. Tut es aber nicht. Ganz besonders auffällig: bei Peter Altmaier, ein durchaus ähnlicher Körpertyp wie Braun, geht es mir ganz anders. Den finde ich einfach nur unsympathisch. Und das passt zur unsympathischen Politik als Wirtschaftsminister.
Aber Helge-Bärchen ...
Das mit dem TV-Gerät lassen Sie bitte. Ich befürchte: im baldigen dritten Lockdown sind Sie froh, dass Sie eines haben - selbst bei schlechtem Programm. Zu Zeiten des Monopols des ÖRF war ich großer Fan des Testbilds, meist ab 0:45, 0:50 Uhr. Aber selbst das haben sie uns weggenommen, die Schwarzen.
Das heutige Gegacker im Unionsstall stimmt mich froh - wie den Mops im Haferstroh. ;-)
ich denke allerdings, dass die cdu für ihre klientel sehr viel erreicht hat: niedriglohn, zerklüftetes sozialsystem, strompreise belasten nur den bürger, jedes unternehmen, was geld schindet, wird gepampert (deutsche bank bis wirecard), abblocken von umweltschutz oder nur dann, wenn arme besonders belastet werden (co2 steuer). merkel hat die cdu nach kohl (!) weitere 15 jahre an der macht gehalten, indem von ihr und den medien folgende märchen in die welt gesetzt wurden: naturwissenschaftlerInnen können alles besser, die kanzlerin kümmert sich um alles, die kanzlerin ist links und vertritt eine soziale politik, eine des ausgleichs. das ist alles falsch und erlogen. merkel ist eine eiskalte neoliberale und sie ist auch machtgeil- wer bitte würde sonst so am sessel kleben.
Ach, Gott sei Dank kommt bald wieder Rot-Grün mit noch zu definierendem Anhängsel (vermutlich FDP) an die Macht! Dann ist endlich wieder Schluss mit Niedriglöhnen, zerklüftetem Sozialsystem, ausbeuterischen Verhältnissen bei Leiharbeit und Scheinselbständigkeit, usw.
So eine Sauerei wie Hartz IV wäre unter Rot-Grün niemals möglich gewesen! Auslandseinsätze der Bundeswehr ohne UN-Mandat natürlich auch niemals!
Oh, wait...
Möglicherweise wirkt Herr Braun auf manche Mitbürger entspannend und einschläfernd. Mir macht er Angst. Denn zu deutlich ist zu sehen, dass er keine Idee hat, keine Initiative zeigt und dass er das auch nicht besonders schlimm findet. In Bezug auf das Fehlen einer politischen Agenda steht er seiner Chefin Frau Dr. Merkel in nichts nach. Deswegen ist er wohl auch Kanzleramtsminister geworden. Dieses Kabinett von Unfähigen und Unwilligen hat das Land beinahe ruiniert. Es wird Zeit, dass diese Leute ihre Posten räumen. Doch was ist die Alternative für Deutschland? Die gleichnamige Partei mit Sicherheit nicht.
Sedieren, keine Agenda, nur Aussitzen: Am Ende, nach 16 Jahren schwabt das Meiste hoch wie übergroße Plastikflaschen aus einem Meer von Unsinn. Die uns "heimsuchenden" Probleme in ihrer komplexen Gesamtheit, erinnern sie nicht an die versauten Ozeane, in die nun noch FFP-Masken strömen?
Ich plädiere sehr dafür, selbst Söder hat das für sich als bay. MP erkannt, eine Kanzlerschaft auf maximal zwei Legislaturen zeitlich zu beschränken. Vorbild können insoweit die USA sein.
Ein grüner Kanzler_in mag das so halten. Und deren nach Ostern feststehende Kandidat_in es so verkünden!
Große Wende mit einem grünen Kanzler! Und einer gestärkten SPD. Bei einer Union, die "aus-" ist: -gezehrt, -geblutet, -gedünnt.