Die Olympischen Winterspiele sind nicht nur die weißen Spiele, sondern auch die Spiele der Weißen. Global betrachtet handelt es sich um Reichtums-Vorführungen der Sonderwohlstandszonen des Nordens. Technisches Material, öffentliche und private Ressourcen sind von geradezu ausschlaggebender Bedeutung. Hat man als Leichtathlet aus Kenia oder Äthiopien durchaus Chancen auf Spitzenplätze, so ist ähnliches im Wintersport gänzlich unbekannt. Dessen Exoten sind im wahrsten Sinne des Wortes aliens. Über deren Fahrstil und mangelnde Eleganz äußern sich die Kommentatoren mitleidig, um ihnen denn doch zu bescheinigen, wie toll es sei, dass sie überhaupt da sind. Die Winterolympiade kennt daher Kernnationen (Mittel- und Nordeuropa, die USA, K
opa, die USA, Kanada und Japan) und Randnationen (in absteigender Reihenfolge: Ost- und Südeuropa, Australien, Asien, Lateinamerika, Afrika). Was als fair play sich verkauft, sollte als fairy-tale betrachtet werden. Nicht einmal ein Kampf der Blöcke (UdSSR/DDR gegen USA/Westeuropa) findet nach 1989 mehr statt. Der Rodler aus Venezuela oder der Skiläufer aus Armenien sind bestenfalls als Staffage zu bezeichnen. Man sieht sie auch höchstens zu Olympia und vielleicht zu Weltmeisterschaften; in den Weltcupläufen, den obligaten Saisonwettbewerben, haben sie nichts verloren. Aus dem einfachen Grund, weil sich weder ihre Länder noch sie sich selbst das leisten könnten. Im globalen System ist Wintersport ein Sport der Reichen, nicht nur an der Spitze, sondern ebenso in der Breite. Am ehesten noch auszunehmen ist der Skilanglauf (ähnliches gilt für den Eisschnelllauf), wo die Ausrüstung zwar nicht vernachlässigbar, aber doch nicht von der Relevanz ist wie bei den Alpinen. Da können auch schon mal Esten und Russen gewinnen. Aber aufgepasst: Beherrscht ein Spanier die Langlaufloipen, dann ist es meistens ein Deutscher namens Mühlegg. Leistungssportler werden national kontingentiert. Man kämpft nicht einfach für sich - Höheres wird eingefordert. Nationalhymne und Nationalflagge gehören dazu. Seit einigen Jahren auch die Kriegsbemalung der Fans. Ein im Spitzensport gebräuchlicher Terminus ist der des nationalen Kaders. Wohlan, nationale Kader sind Kader der Nation. Viele österreichische Olympioniken nennen als ihren Beruf den des Zeitsoldaten, viele deutsche den des Sportsoldaten. Ohne Heer wären diese Kader gar nicht möglich. Athleten sind so Angehörige der wirklichen Streitkräfte, Bestandteil nationaler Truppen im Kampf. Die Front ist da, aber es ist nicht der Schützengraben, sondern die Piste, die Schanze, die Loipe, der Eiskanal. Was sich dort bewegt, das sind spezifisch uniformierte Charaktermasken des Staatsapparats. Der Wettkampfsport ist also keine bloße patriotische Draufgabe, sondern zu einer ganz zentralen Größe nationaler Selbststilisierung geworden. Sozusagen ein Hauptort unbedingter Identifizierung. In ihm wird das Nationale als eherner Mythos bewahrt und gepflegt. Die Kraft der Nation misst sich an den gewonnen Schlachten. Ausgeschüttet werden Glücksgefühle, die dem Hormonhaushalt zweckdienlich sind, ja ihn nachhaltig prägen können. Wo sind die "Unseren" gelandet? Auf welchen Plätzen liegen sie? Das sind oft gestellte Fragen in Zeiten permanenter Sportübertragung. Der Gegner muss im wahrsten Sinne des Wortes geschlagen werden. Für das Nationalgefühl ist ein solcher Sieg, und noch mehr der Erfolg ganzer Teams, effektiver als tausend Stunden Staatsbürgerkunde. Für die späte Bildung der österreichischen Nation sind die Triumphe der Skinationalmannschaft von geradezu erstrangiger Bedeutung. Eine Nation als Folge von Skierfolgen? - Irgendwie schon. Wobei dieser Nationalismus inzwischen weniger volksbezogen ist als standortorientiert, weniger am Stamm interessiert als am Geschäft. Es geht im Leistungssport gar nicht primär um den sportlichen Wettbewerb, sondern um die kommerzielle Konkurrenz. Man muss die Auftritte der Sportler als Werbeträger bloß genauer betrachten. Die Spektakel, und insbesondere die Olympiaden, gleichen großen PR-Festen. Die punzierten Akteure treten an als Idioten ihrer Waren. Sie sind wandelnde Litfaßsäulen. Jeder Trainer, Betreuer, ja Servicemann muss mit Produkten und Etiketten seiner Marke vor der Kamera posieren. Skier, Schuhe, Stirnband, Overall, Pullover, kein Ort entgeht der Verwertung. Solch Großereignisse sind geradezu prädestiniert, das herzuzeigen, was man hat und deswegen ist. Wintertourismus und Skierfolge hängen ja ganz eng zusammen. Die Schweiz bekam das in den letzten Jahren deutlich zu spüren. Das Bild der Idole, vor allem das der Naturburschen, ist freilich ein televisionäres Trugbild, eine Erscheinung folkloristischer Werbespots. Jene sind vielmehr hochgezüchtete industrielle Wesen, ständig trainiert, kontrolliert, diszipliniert. Arme Hunde, selbst wenn sie reich geworden sind. Der extreme Verschleiß der Hochleistungssportler ist hingegen kaum Gegenstand der Debatten, weder der chronische noch der akute. Der Alpine Skilauf wirft auf den Pisten seine Verletzten in Dutzenden ab, inklusive Querschnittsgelähmte und Tote. Aber das sind die Kollateralschäden der weißen Arena. Auch die Politik darf in diesem Realszenario nicht fehlen. Anwesenheit ist Pflicht, Mitnaschen ist angesagt. Dass Susanne Riess-Passer die letzten Tage viel Zeit in den USA verbrachte, hat damit zu tun, dass die freiheitliche Vizekanzlerin, die zugleich als Sportministerin fungiert, im Eventualfall zugegen sein wollte. Auch der deutsche Bundespräsident Rau darf da nicht fehlen. Kaum wird ein Erfolg eingefahren, verschafft man sich über die exzessiven Sendezeiten zusätzliche Auftrittsmöglichkeiten. Immer mehr Politiker erkennen die Wichtigkeit des Sports, sind bereit, sich zu engagieren. Und das dankbare Publikum, es partizipiert und jubelt. "Sport ist das Ventil der Konkurrenzgier, ist Konkurrenz fürs Volk", schreibt der Philosoph Günther Anders. Eine Um- und somit Ableitung des Solidaritätsgefühls. Unterhaltung pur ist angesagt. Spitzensport ist ideelles Zuckerbrot für reell Gepeitschte. Nichts wird besser, aber man fühlt sich besser. Jener produziert Gefühle, die mit dem Einzelnen nichts zu tun haben, aber doch ganz anders empfunden werden. Das Subjekt erbaut sich an Erfolgen (oder es leidet an Misserfolgen), die es für sich in Anspruch nimmt. Als bewusstloser Meister diverser Projektionen fabriziert sich der Fan aus der Identifikation mit einem äußeren Erlebnis seine eigene Erhöhung. "Wir haben es beim Sport mit einem Massenphänomen zu tun, unter dessen Einfluss sich Menschen anders verhalten als sonst. Unter dem Einfluss des Sports fühlen sich Menschen plötzlich maßgeblich, das ist ihr Wahn", heißt es in Elfriede Jelineks Sportstück. Bereits der Gründer der modernen Olympischen Spiele, der französische Baron de Coubertin (1863-1937), sprach davon, deren Aufgabe sei, dass "die gute soziale Laune fließen" soll. Zweifellos, die fließt. Der passiv konsumierte Sport funktioniert so wie Alkohol. Um uns nicht misszuverstehen, wir propagieren hier keinen Entzug, wir wollen niemandem das Zuschauen verleiden oder verübeln oder gar Personen denunzieren, wir wollen nur dezidiert darauf hinweisen, was da in den national geprägten Subjekten abgeht. Mit dem Medaillenspiegel ist es übrigens ähnlich wie mit dem Alkoholspiegel: Je höher er, desto besoffener man. Der wesentliche Unterschied ist aber der, dass der letztgenannte Rausch zumindest als ein solcher wahrgenommen wird, was für den ersten absolut nicht gilt.
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