Der letzte Aufenthaltsort Erich Honeckers lenkte kurzfristig den Blick auf ein Kapitel DDR-Geschichte, das im Westen Deutschlands kaum bekannt war: das Exil von einigen Tausend Chilenen im Arbeiter- und Bauernstaat. Etwa 5.000 Flüchtlinge waren auf der Flucht vor der mordenden Soldateska Pinochets nach dem 11. September 1973 aus Chile nach Deutschland gekommen, 3.000 fanden Aufnahme in der BRD, gut 2.000 in der DDR. Das politische Profil der Exil-Chilenen war hüben wie drüben relativ ähnlich: es waren Leute aus allen Parteien der Linken, kritische Intellektuelle und Gewerkschafter. In beiden deutschen Staaten entstand nach 1973 chilenische Exilliteratur.
In der alten BRD waren es Autoren wie Antonio Skármeta (heute Botschafter Chiles in Berlin!), Hernán Valde
;n Valdez, Carlos Lira, Christián Cortéz oder Pedro Holz, in der DDR Omar Saavedra Santis, Guillermo Deisler (gestorben 1995 in Halle), Carlos Cerda oder Roberto Ampuero, deren Prosa und sogar Lyrik übersetzt und gelesen wurde. Die künstlerisch interessantesten Repräsentanten des chilenischen Exils in der DDR waren sicherlich Guillermo Deisler mit seiner im Grenzbereich von Literatur und bildender Kunst angesiedelten visuellen Poesie und der Romancier Omar Saavedra Santis. Von letzterem sind in den Verlagen Neues Leben und Aufbau vier Romane und ein Band Erzählungen erschienen, der letzte hieß Frühling aus der Spieldose und erschien 1990, wenige Wochen vor dem Ende der DDR. Seitdem war es still geworden um diesen Autor, an dem der deutsche Literaturbetrieb bislang wenig Interesse zeigt. Kaum verständlich, wenn man Saaverda Santis´ Roman Die Große Stadt von 1986 liest, der kürzlich neu aufgelegt wurde. Denn hier präsentiert sich ein großer lateinamerikanischer Erzähler, der in kleinen Geschichten historische Prozesse transparent macht. Der Roman beginnt ganz beschaulich. Wir erleben das unaufgeregte Leben in der Großen Stadt; für Kenner Chiles unschwer als Saavedra Santis´ Heimatstadt Valparaíso zu erkennen. Dort betreibt der aus Nazideutschland geflohene Frederico Niemeyer zusammen mit seinem Angestellten Oliverio Sotomayor eine Leihbibliothek. Das geordnete Dasein hat ein Ende, als die Parteien der Linken die Wahl gewinnen. Einer der Kunden der Leihbibliothek, der eigentlich gegen jede anspruchsvolle Lektüre resistente Gewerkschafter Pancho Benavente, wird dazu verdonnert, das Amt des Ministers für Kunst und Kultur zu übernehmen. In dieser Eigenschaft lässt er Oliverio Sotomayor zu sich rufen und teilt ihm mit, dass er ihm das Amt des "Generaldirektors der Volksbibliotheken" übertrage. Die Sache hat allerdings einige Haken: Weder existieren bislang Volksbibliotheken, noch gibt es einen Etat zum Ankauf von Literatur. Und wie Leute für Literatur begeistern, wenn das anvisierte Zielpublikum zu 80 Prozent aus Analphabeten besteht? Oliverio Sotomayor hat eine unglaubliche Idee: Wenn Menschen Bücher nicht lesen können, dann müssen sie sie eben hören. Gesagt, getan. Gemeinsam mit Kindern und Jugendlichen der Großen Stadt initiiert er das Projekt der sprechenden Bücher. Alle Teilnehmer müssen sich je ein Buch vornehmen und zum späteren Vortrag auswendig lernen. Natürlich werden das keine trockenen Wiedergaben, sondern engagierte Rezitationen. Die Jugendlichen identifizieren sich mit den Helden "ihrer" Bücher. In ihren Vorträgen werden sie alle lebendig. Die Rezitatoren, die bald nur noch die "sprechenden Bücher" heißen, treten auf Märkten, in Häfen, Fabriken, Agrarkooperativen und Gefängnissen auf. Die Literatur, ehedem nur etwas für die Elite, wird buchstäblich zum Tagesgespräch auf den Straßen und in den Kneipen. Alles die Erfindung eines phantasiebegabten Autors, der die Literatur liebt und an die Macht der Vorstellungskraft glaubt? Sicher. Aber nicht nur. Omar Saavedra Santis´ Roman Die große Stadt ist ein Buch über ein - aus heutiger Sicht - ungeheuerliches und verrücktes Projekt: den Versuch einer Bewegung von Sozialisten, Kommunisten, linken Christen und Radikalen, in Chile ohne Waffengewalt die politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen radikal umzugestalten. Das Ziel war eine sozialistische Demokratie, die Bewegung nannte sich Unidad Popular und ihre Symbolfigur war der Arzt Salvador Allende. Ungeheuerlich und verrückt war das Projekt, weil es in den traditionellen Machtgruppen Chiles und der Nixon-Administration in Washington entschlossene Feinde hatte, die alles daran setzten, das Experiment gründlich und definitiv zu zerstören. Die Feinde der Umgestaltung im Roman sind personifiziert im Geheimdienstoffizier Bruno Perthel. Ihm sind die sprechenden Bücher das größte Ärgernis, symbolisieren sie doch den kulturellen Aufbruch, der mehr als alles andere althergebrachte Normen und den Status Quo in Frage stellt. Dieser Griff nach den Sternen muss genauso zerstört werden wie der Angriff auf das Privateigentum. Mit der Parabel der sprechenden Bücher macht Omar Saavedra Santis die politische und kulturelle Aufbruchstimmung im Chile der Unidad Popular lebendig. Die Große Stadt ist der Roman einer Epoche und die Reflexion über die Kraft einer Utopie. Aber anders als die Figuren des Romans haben die Leser das historische Wissen über das, was am 11. September 1973 und danach in Chile geschah. Deshalb ist der Schrecken bei aller geschilderten Begeisterung von Beginn an gegenwärtig. So stellt sich gerade in den Passagen, in denen die Euphorie jener Tage spürbar wird, ein Gefühl der Trauer ein. Die Große Stadt ist in diesem Sinne auch ein Requiem. Ein Requiem, das die Hoffnung impliziert, dass noch nicht alles zu Ende ist. Erwähnenswert bei der Neuauflage im Berliner Kleinverlag "Edition Schwarzdruck" sind die aufwendige und sehr ansprechende Typographie und Aufmachung und ein aktuelles Nachwort des Autors, das leider nicht so sorgfältig redigiert wurde wie der Rest des Buches.Omar Saavedra Santis: Die Große Stadt. Roman. Edition Schwarzdruck, Berlin 2002, 360 S., 20,- EUR