Totgesagte leben länger. Zum Beispiel der dramatische Text. Projektarbeit hin oder her, Dramatik bleibt offenbar ein zentraler Motor der zeitgenössischen Theaterästhetik. Das zeigt sich auch bei der Auswahl des Theatertreffens. Auffallend viele Inszenierungen aktueller Dramatik sind mit von der Partie: Stücke von Elfriede Jelinek, Roland Schimmelpfennig, Dea Loher und dem Briten Dennis Kelly. Und das Theatertreffen kümmert ich um den Nachwuchs. Der Stückemarkt ist eine etablierte Plattform für neue europäische Dramatik und Jagdgrund der Verleger. Hier lauert man den noch unvermarkteten Talenten auf.
Dass die aus einem Berg von Texten ausgewählten Stücke dem Fachpublikum in szenischen Lesungen präsentiert werden, hilft in der Regel, zu b
egel, zu beurteilen, wie und dass die Texte in einer Inszenierung funktionieren können. Während die eingeladenen Inszenierungen meist von etablierten Künstlern stammen, werden beim Stückemarkt Karrieren begonnen. Nis-Momme Stockmann, Preisträger des Jahrgangs 2009 hat es innerhalb eines Jahres nicht nur zum vielgespielten Dramatiker, sondern mit seinem Text Kein Schiff wird kommen bis zu den Mülheimer Theatertagen, also in den deutschsprachigen Dramatiker-Olymp geschafft. Solche Blitzstarts sind nicht die Regel, aber man darf gespannt sein, was von den Akteuren des Jahrgangs 2010 noch kommt. Denn die Ausbeute ist gut und dabei erfreulich heterogen. Es handelt sich durchweg um kraftvolle Ansätze junger Autoren. Nur eine Autorin ist darunter und ein fremdsprachiger Text.Solide surrealDer Rumäne Peca Ştefan schreibt auf Englisch. In seinem Stück Wire Acrobats (Drahtseilakrobaten) strampelt eine Gruppe von Figuren in ihren scheinbar ausweglosen Situationen vor sich hin, bis plötzlich alles anders kommt. Ein Künstler versucht, durch Androhung von Selbstmord ein Gespräch mit dem Kulturminister zu erzwingen und prallt an der unfassbar bürokratischen Grundhaltung seiner Mitmenschen ab. Eine junge Frau will aus ihrem privaten Wartesaal nach Island entkommen, verschenkt das Reisegeld aber an einen Zauberer, der ihren lieblosen Ehemann von der Bildfläche verschwinden lässt. Ein Reigen an Verwandlungen, an Geschichten, die sich ineinanderschieben, immer wahnwitziger und anrührender.Am Ende hätte man sich gewünscht, dass ein begonnener Kreis sich schließt. Ebenfalls mit einem Hang ins Surreale überzeugte das Stück Ewig gärt des Regisseurs Ekat Cordes. Er nimmt die Kleinfamilie unter die Lupe, wie sie an den Zentrifugalkräften eines wüsten Jahrmarkttreibens zerschellt. Gewalt, Perversion und Missbrauch kommen ans Licht. Das Ganze mit einem Hang zum sich endlos weiterschraubenden Sprichwort, der an Werner Schwab erinnert. Dass dann noch der Griff ins Klo aus Schwabs Präsidentinnen zitiert wird, mag man für zuviel des Guten halten. Schade auch, dass die überambitionierte Regie der Lesung der ästhetischen Stoßrichtig des Textes entgegenwirkte. Trotzdem drang eine eigene Sprache durch, ein Wuchern ins Surreale, das aufhorchen ließ. An überladener Drastik krankt dagegen Alles Ausschalten von Julian van Daal. Der 1985 geborene Autor porträtiert junge Menschen, die keinen Haltegriff für ihr Leben finden können und aus Langeweile und Dummheit gewalttätig werden. Das ist handwerklich gut geschrieben, gerade im Abbilden der auf der Stelle tretenden Rede: „Was machst du? / Nichts Besonderes. Rumsitzen halt. / Cool. (Schweigen) / Sag mal.../ Hm?/ Nee, schon gut“... aber am Ende inhaltlich zu dünn und grob im Vergleich zur Konkurrenz.Die AusreißerDer große Marsch von Wolfram Lotz eroberte bei der Lesung das Publikum im Sturm. Mit Schwung wirft der Autor sich in die sachkundige Verhohnepipelung des Theaters als Institution. Respektlos übt er Kritik am selbstreferentiellen Blabla einer Szene, die sich in der Rolle der letztes kritischen Bastion gefällt und nicht merkt, wie sie einerseits an den wahren Schmerzpunkten vorbeiredet und andererseits ästhetisch auf der Stelle tritt: Eine Moderatorin zitiert Figuren auf die Bühne, die nur sagen dürfen, was ins Konzept passt. Die Mutter des Autors tritt als Figur auf, sie bringt einen unleserlichen Zettel mit der Grußbotschaft des Urhebers Lotz: „Alle sind Brei“ wird am Ende entziffert. Oder frei? Was für ein schöner Gedanke, was für eine kluge und lustvolle Kritik! Für Freitagabend steht vor der Preisverleihung des Stückemarktes mit Claudia Grehns Ernte noch ein Highlight auf dem Programm. Die junge Autorin verbindet in ihrem Stück literarische Ambition mit Systemkritik. Und das mit einer Ernsthaftigkeit, die sich von den männlichen Kollegen abhebt, sich vielleicht auch dem Vorwurf der Naivität aussetzt. Es geht um polnische Erntehelfer, die von ihren prekären Einkommensverhältnissen abhängig sind, um Schwangere, die sich von ihren Männern abhängig machen. Doch das Stück begnügt sich nicht mit der Beschreibung des tristen Status Quo, es zeigt seine Figuren als denkende, fühlende Menschen, schafft gedanklichen Raum für Alternativen und fordert zudem das Theater als Raum der Literatur heraus. Eine reiche Ernte.