Sprudelndes Halbwissen

Kino Hans Weingartner schickt in „303“ zwei junge Menschen auf Europareise
Ausgabe 29/2018

Jeder will mal raus, einfach so. Raus aus dem Job, aus dem Alltag, raus aus dem eigenen Leben mit seinen Regeln und Gesetzen. Da wollen allerdings nicht gleich machen bedeutet, ist die Straße immer schon ein Sehnsuchtsort der Fiktion. Wenn schon kein tatsächlicher Eskapismus, dann wenigstens geträumter. Beat-Autor Jack Kerouac gab mit On the Road einer ganzen Generation ein Manifest der Rast- und Haltlosigkeit, im Kino ist das Roadmovie das Genre des Lostgelöstseins, die äußere Reise der Figuren meist auch eine innere, zur Erkenntnis oder wohin auch immer.

On the Road schickt uns nun auch Hans Weingartner in 303. Benannt ist sein Film nach dem Wohnmobil, Modell Mercedes Hymer 303, mit dem die beiden Hauptfiguren unterwegs sind. Grund, mal rauszukommen, haben beide: Politikstudent Jan (Anton Spieker) bekommt ein wichtiges Stipendium nicht und beschließt kurzerhand, seinen in Spanien lebenden, leiblichen Vater zu besuchen, den er in seinen 24 Lebensjahren nie kennengelernt hat. Und die gleichaltrige Jule (Mala Emde) setzt eine Biochemie-Prüfung in den Sand und will zu ihrem Freund nach Portugal, von dem sie ungewollt schwanger ist. Sie gabelt den von der Mitfahrgelegenheit versetzten Jan an einer Autobahnraststätte auf.

Die Grundkonstellation erinnert an diese verrückten, schicksalhaften Kennenlerngeschichten, die extrovertierte Paare gerne ausschmücken, um damit hausieren zu gehen. Zugleich ist sie Kino pur, überzogen mit sympathischer Nostalgie. Da ist Jules alter Bus, mit dem die beiden nach einem holprigen Start schließlich doch gemeinsam reisen – und da ist vor allem die absolute Entschleunigung, die Weingartner zelebriert. Er pfeift auf eine ökonomische Erzählung und lässt den beiden in den knapp zweieinhalb Stunden gefühlt alle Zeit der Welt. In den Worten Rainer Maria Rilkes, die Weingartner seinem Film voranstellt: „Dieses ist das erste Vorgefühl des Ewigen: Zeit haben zur Liebe.“

Vorbild Linklater

Wie Richard Linklaters Before Sunrise, von dem sich Weingartner inspirieren ließ, ist 303 ein Film der Worte. Jule und Jan diskutieren und schwadronieren, sie schälen mit jedem gefahrenen Kilometer eine weitere Schutzschicht des Gegenübers ab. Sie reden über Selbstmord, für Jan eine egoistische Tat, über die Tücken des „Raubtierkapitalismus“, der die Menschen laut Jule zur Ellenbogenmentalität zwingt, über Konkurrenz versus Kooperation, Darwin, die Natur des Menschen, später dann über Liebe und Sex. Es ist ein verbales Ringen und Sichausloten, das nicht in allen Momenten so natürlich wirkt, wie gewollt, und das mit seinem Hang zu klassischen großen Themen ein ums andere Mal ermüdend wirkt. Andererseits steckt gerade in diesem vor Theorien sprudelnden Halbwissen die brennende junge Leidenschaft.

Der Zuschauer sitzt quasi mit im Bus auf der Fahrt von Deutschland über Belgien, Frankreich und Spanien bis hinunter nach Portugal, auf der sich die beiden beschnuppern. Später dann sogar buchstäblich, und nicht nur, um Jans Theorie über die Relevanz des Geruchssinns bei der Partnersuche zu testen. Mit ihrem – wenn auch nur temporären – Leben neben dem System sind Jan und Jule ein Weingartner-Paar. War es in die Die fetten Jahre sind vorbei der romantisierte Idealismus eines gegen das Bürgertum revoltierenden Paares, erzählt er in 303 eine vor Idealen und Ideen strotzende Liebesgeschichte.

Das Ziel der äußeren Reise ist dabei ebenso klar wie das der inneren. 303 lebt weniger von dem, was erzählt wird, als davon, wie. Auch wenn Weingartner dazu neigt, zu viel auszuerzählen, fesselt sein Film mit Natürlichkeit und Energie und seinen fantastischen Hauptdarstellern. Und bei den wunderbaren Landschaftsaufnahmen und dem atmosphärischen Indie-Soundtrack möchte man am liebsten gleich selbst den Rucksack packen, die Kopfhörer aufsetzen und „Tschüss“ sagen.

Info

303 Hans Weingartner Deutschland 2018, 145 Minuten

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