Spuren

Paul Spiegel ist tot Der Zentralratsvorsitzende musste viel dazulernen

Was geht uns Juden der Antisemitismus an? Das fragte Paul Spiegel, als er noch jung im Amt des Zentralratsvorsitzenden der Juden in Deutschland war. Er wunderte sich über diese "merkwürdige Selbstverständlichkeit", gerade in Deutschland "ausgerechnet Juden zum Thema Antisemitismus" zu befragen. Als seien Juden "Fachleute in Sachen Antisemitismus", als hätten die nichtjüdischen Deutschen von Antisemitismus keine Ahnung. "Der Antisemitismus betrifft uns", sagte er, "aber unser Problem ist er nicht. Er ist das Problem der nichtjüdischen Gesellschaft, für deren demokratische und ethische Verfassung er eine Katastrophe ist."

Doch der Antisemitismus betrifft die Juden, er trifft sie, und das, wo immer er kann. Paul Spiegel musste in seiner Zeit an der Spitze des Zentralrats erfahren, dass der Antisemitismus wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, dass wieder "der Jude" selbst es ist, der am Antisemitismus schuld sein soll.

Paul Spiegel ist am 30. April gestorben. Er hat den Deutschen, die einen neuen Weg (einen antirassistischen, wie sie vorgeben) gefunden haben, um doch nur dem alten Antisemitismus nachzugehen, ein Vermächtnis hinterlassen: "Kritik an israelischer Politik ist ebenso erlaubt wie an der Politik anderer Staaten. Ich bin nur erschrocken darüber, mit welcher Ungerechtigkeit und Vehemenz sich diese angebliche Kritik bei allzu vielen Menschen in diesem Land Bahn bricht. Kritisiert man israelische Politik gegen den Terror, so muss man auch den Terror gegen Israel benennen. Kein Kind, keine Frau, kein Mann in Israel kann sich sicher fühlen, wenn sie auf die Straße gehen. Hunderte sind in den letzten Monaten nicht mehr nach Hause gekommen nach der Schule, der Arbeit, dem Einkauf, dem Restaurantbesuch, dem Discoabend: Sie wurden Opfer von Selbstmordattentätern."

Er musste dazulernen in den sechs Jahren, in denen er Präsident des Zentralrats war. Sein Vorgänger Ignaz Bubis, ein Optimist der frühen Stunde, ist in tiefer Resignation gestorben. Und auch Paul Spiegel wurde in seiner Amtszeit eines Schlimmeren belehrt. Spiegel war, so meldet es der FAZ-Nachruf, "zuletzt in einer gewissen Weise ernüchtert über die Entwicklung zwischen Deutschen und jüdischen Deutschen". Die Frankfurter "Zeitung für Deutschland" nahm bei der Schilderung seines Lebenslaufes Stellung: "Die Spur der älteren Schwester Rosa verliert sich im KZ Bergen-Belsen."

Wie verliert sich so eine Menschenspur? Dazu schweigt der gesamtredaktionelle FAZ-Nachruf. Paul Spiegel war, noch nicht zwei Jahre alt, mit seiner Schwester 1939 von der Mutter nach Belgien gebracht worden, der Vater war schon im KZ. Die Schwester, die fließend französisch sprach, musste, als die Deutschen einmarschiert waren, aus dem Versteck, um die Besorgungen zu machen. Ob sie Jüdin sei, fragte sie ein Gestapo-Mann bei einer Razzia auf der Straße. Ja, sagte sie. Der Bruder sechs Jahrzehnte später: "Wer stiehlt ein kleines Mädchen von der Straße? Wer steckt ein Kind in einen Viehwaggon, damit es viele tausend Kilometer weiter mutterseelenallein im Gas erstickt? Ich begreife es bis heute nicht."

Der Gestapo-Mann war Fachmann für Antisemitismus. Erst 2002 hatte Paul Spiegel erfahren, dass seine Schwester in Auschwitz vergast worden war.


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