Im Gespräch Die Französin Laurence Picq über ihr Leben in Kambodscha während der Pol-Pot-Diktatur zwischen 1975 und 1979 und das Internationale Tribunal gegen die Roten Khmer
Der Freitag: Sie sind die einzige Nicht-Kambodschanerin, die während der Herrschaft Pol Pots durchweg mit den Roten Khmer zusammengelebt und überlebt hat. Wie kam es dazu?
Laurence Picq: Diese Geschichte fing 1967 an, also acht Jahre vor Beginn der Pol-Pot-Zeit. Ich war damals 20 Jahre alt und erlebte während der Semesterferien ein Treffen mit kambodschanischen Studenten. Sie bildeten Ende der sechziger Jahre eine recht große Gruppe in Paris, denn Prinz Norodom Sihanouk, seinerzeit Staatsoberhaupt in Phnom Penh, wollte mit ihnen eine eigene kambodschanische Intelligenz aufbauen, er wollte ein anspruchsvolles intellektuelles Milieu, das außergewöhnlich sein sollte in seinem Bezug zum Leben, aber auch wegen der Dynamik, die daraus erwuchs.
Unter diesen Studenten w
en der Dynamik, die daraus erwuchs.Unter diesen Studenten war Sikoeun – damit fing eine Liebesgeschichte an und zugleich eine Geschichte, die mit der kambodschanischen Tragödie zu tun hatte. 1967 war das Jahr, in dem kambodschanische Intellektuelle wie Khieu Samphan, Hou Youn und Hu Nim im Dschungel untertauchten. Mit ihnen hatten sich für viele Kambodschaner große Hoffnungen auf eine gerechtere Gesellschaft verbunden. Auch für Sikoeun, was mir sehr gefiel. Es ging um das Ideal, sich für eine soziale und humanitäre Sache einzusetzen.Sie haben Sikoeun später geheiratet, folgten ihm nach dem Sturz Sihanouks im März 1970 ins chinesische Exil. Sie blieben dann fünf Jahre in Peking, bekamen zwei Töchter und lernten Chinesisch. Sie waren anerkannt und arbeiteten als Übersetzerin. Hatten Sie damit gerechnet, so lange in China zu sein?Uns war klar, dass es Zeit brauchen würde, ehe sich in Kambodscha etwas ändert. Ich habe mich in Peking wohlgefühlt, wir hatten viele Privilegien. Irgendwann tauchte ein Mann auf, der sich Ieng Sary nannte. Wie es hieß, sollte er sich um die Beziehungen mit den Kambodschanern im Ausland kümmern. Dabei war mein erster Kontakt mit ihm sehr merkwürdig. Als er eine Versammlung über die Lage in Kambodscha anberaumte, schloss er mich aus, weil ich keine Kambodschanerin war. Das war mir noch nie passiert. In meinem ersten Schock sagte ich zu ihm, er sei kleingeistig und beschränkt, ein Sektierer. Das hat ihn schwer getroffen. Ich musste mich dann später immer wieder dafür entschuldigen, denn Ieng Sary wurde schnell sehr mächtig. Er war der Außenminister der Roten Khmer.Im Oktober 1975, mehr als fünf Monate nach der Einnahme Phnom Penhs durch die Roten Khmer, kehrten Sie zurück. Ahnten Sie, was Sie dort erwartete?Natürlich gab es ein Bewusstsein über den Ernst der Lage. Die einstige Millionenstadt Phnom Penh war vollkommen verlassen. Für mich ein eigentümlicher, intensiver Eindruck. Wir fuhren vom Flughafen Pochentong mit einem Auto in die Stadt und kamen schließlich in einem Gebäude an, das wir nicht mehr verlassen durften. Ein totales Gefängnis. Wir waren eingeschlossen. Auch unser Leben war weggesperrt. Bald darauf wurden mir die Kinder weggenommen und unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht.Dann gab es ein Seminar mit Khieu Samphan, der ab 1976 Staatschef in Pol Pots Demokratischem Kampuchea war. Diesmal wurde ich von ihm ausgeschlossen. Sobald man fremd aussah und Ausländer war, wurde man zur Persona non grata.Das hatte ich mir nicht so vorgestellt. Ich sprach gut Khmer, ich habe Übersetzungen gemacht. Ich habe gearbeitet. Es war auf jeden Fall ein Schock. Aber ich sagte mir, das wird sich einrenken, ich gehe aufs Land und werde dort mit den anderen zusammen sein. Ich hatte vor der so genannten Umerziehung keine Angst. Mir gefiel das sogar. Aber zwei oder drei Wochen nach meiner Ankunft in Phnom Penh kam mein Mann Sikoeun, um mich zu holen und mit mir nach B 1 zu gehen, wie das Außenministerium genannt wurde, als es unter der Leitung von Ieng Sary stand. Alle anderen Gefährten von Sikoeun seien aufs Land gegangen, hieß es. Später stellte sich heraus – sie wurden alle ermordet.Seit 1975 hatten die Roten Khmer damit zu tun, die Fundamente für ihren Bauernstaat zu legen. Wie haben Sie das erlebt?Es ging um die Abschaffung des materiellen Eigentums überhaupt. Ich sagte mir, das ist nicht schlimm – man kann trotzdem leben. Ab Januar 1976 begannen dann aber die Säuberungen. Leute gingen und kamen nicht wieder. In ideologischer Hinsicht gab es gleichfalls eine Akzentverschiebung, denn nun ging es darum, das Ego abzuschaffen: Man sollte keine Persönlichkeit und keine persönlichen Gedanken mehr haben. Man hatte keinen Namen, nichts Menschliches mehr.Wie ging das vor sich?Man lebte im Kollektiv. Man war gleich gekleidet. Aber man musste auch wie alle anderen denken und aufpassen, sich dabei nicht zu irren. Man musste eine Sprache benutzen, die aus Stereotypen und Zitaten bestand. 1978 hat sich das noch zugespitzt, da ging es um die Kontrolle des Unbewussten, um den Kampf gegen den inneren Feind, gegen die Verräter. Ich wurde angeklagt, für die Franzosen zu arbeiten und für die Amerikaner. Für die Franzosen, weil ich Französin war – für die Amerikaner, weil ich Abitur gemacht hatte. Für die Russen, weil mein Vater Arbeiter war. Ich war auch angeklagt, für die Vietnamesen zu arbeiten, weil ich die Vietnamesen liebte.Was haben Sie von den Massenexekutionen erfahren?Ich habe viele weggehen sehen. Ich habe gewusst, dass alle starben. Dieser Irrsinn mit dem inneren Feind, diese Wogen der Säuberung, die aufeinanderfolgten, es war verrückt. Jeder fragte sich: Bin ich der Nächste? Es gab ein Denunziationssystem. Wer verhaftet worden war, musste ein Geständnis ablegen und andere denunzieren. Wenn der Name der Denunzierten dreimal auf der Liste stand, wurden sie verhaftet.Sikoeun, Ihr Ehemann, war Sekretär von Ieng Sary. Wie lebten Sie in dieser Zeit als Ehepaar?Es gab kein Leben als Paar. Wir haben nicht miteinander gesprochen. Er arbeitete im Büro, und ich war in der Zeit isoliert, weit entfernt von allen anderen, hinter Gittern, ganz allein. Nur wenn ich meine Übersetzungen zurückgegeben habe, machte er manchmal Korrekturen. Das war alles.Wussten Sie, wie Ihr Mann zu der Zeit dachte?Ich wusste es nicht. Er hat mir immer wieder vorgeworfen, weil ich da sei, müsse er Dinge erleiden, die ohne mich nicht geschehen wären. Später sagte er, ich sei ein Hindernis für seine Karriere gewesen. Ohne mich hätte er ein besseres Leben führen können.Ich spielte stets die Rolle der Gehorsamen. Dies umso mehr, als mir mein Mann erklärte, eine Khmer-Frau sei bescheiden, nicht hochmütig wie ich. Ich habe mich angepasst, immer in der Hoffnung auf den Tag, an dem es wieder anders werden würde und wir wieder als Paar zusammenfinden könnten, was dann aber nie geschehen ist.Anfang 1979 nahmen die Vietnamesen Phnom Penh ein. Die Roten Khmer flohen in Richtung Thailand. Sie landeten mit Ehemann und Kindern wieder in Ja, 1980 habe ich mich mit meinen beiden Töchtern gerettet. Von Peking aus ging das nicht, weil ich keine Papiere hatte. Aber ich wusste, von einer Basisstation aus – im Dschungel an der Grenze zu Thailand – würde ich mich in Sicherheit bringen können. Und das habe ich getan.Inzwischen sind 30 Jahre vergangen. Sie arbeiten heute in Ihrer Heimatstadt Dijon als Psychotherapeutin. Nun sitzen in Phnom Penh demnächst führende Rote Khmer als Angeklagte vor dem Internationalen Tribunal. Einige wie Ieng Sary und Khieu Samphan haben Sie aus nächster Nähe erlebt. Wie wirkt das auf Sie?Als ich von der Festnahme von Ieng Sary hörte, hatte ich ein Gefühl der Erleichterung. Was mir bis heute fehlt: Dass die Leiden der Opfer anerkannt werden. Schließlich lebte Ieng Sary bis zu seiner Festnahme wie ein König, er besaß enorm viel Geld.Was sagen Sie zu der Person von Khieu Samphan, einst Präsident des Demokratischen Kampuchea, der bestreitet, von Massenexekutionen etwas gewusst zu haben?Alle Kambodschaner, die in der Pol-Pot-Zeit aus Frankreich und anderen Ländern zurückkehrten, wurden umgehend von Khieu Samphan konditioniert, wie das damals hieß. Er sagte ihnen, es ist wunderbar, was in Kambodscha passiert. Sie alle haben dafür mit ihrem Leben bezahlt.Aber sehr viel mehr trafen Sie mit Ieng Sary zusammen.Zweifellos. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie oft ich dabei war auf Seminaren oder Schulungen und mit eigenen Ohren hörte, wie Ieng Sary Leute als Verräter bezeichnete. Wie er die Menschen dazu aufforderte, andere zu denunzieren, wie er dabei Krokodilstränen vergoss und sagte, dass er demjenigen vertraute, der sich jetzt als Verräter entpuppt habe. Er ließ viele Menschen verhaften, nachdem sie bei ihm waren. Ich habe in meinem Buch den Begriff „Vorzimmer des Todes“ benutzt.Ieng Tirith, die Ehefrau Ieng Sarys, hat einmal gesagt, die Alten brauche man nicht mehr in Kambodscha, es komme auf die Jungen an.Ja, die hatten Priotität. Zuletzt wurden deshalb ganze Schulen nach B1, dem Außenministerium, gebracht, um die Kinder ideologisch zu formen.Wie geht es Ihnen heute? Die Rote-Khmer-Zeit liegt lange zurück.Ich bin nicht gesund. Erst zeigten sich die Spätfolgen der Leiden bei einer meiner Töchter. Jetzt haben sie mich erreicht. Es bleibt schwer, das Erlebte zu verarbeiten. Man ist zu allein und durch die öffentliche Meinung nicht anerkannt. Es ist eine Frage des Verstehens – man versteht nur gut, was man selbst erfahren hat.
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