Christoph Dieckmann ist seit 1991 Redakteur im Berliner Büro der Wochenzeitung Die Zeit. Seitdem beschreibt er in seinen preisgekrönten Reportagen den Soundtrack der ostdeutschen Mentalität. Geboren 1956 in Rathenow, arbeitete der studierte Theologe als Kirchenreferent und als Landfilmvorführer im Kreis Sangerhausen. Zwischenzeitlich schrieb er für Sonntag und Freitag. Zuletzt sind erschienen: Volk bleibt Volk. Deutsche Geschichten, Ch. Links-Verlag und Die Liebe in den Zeiten des Landfilms, Aufbau-Verlag.
FREITAG: Sie sind der Ostchronist bei der "Zeit". Man hat oft den Eindruck, dass Sie der westdeutschen Leserschaft als geduldiger Sozialkundelehrer für ostdeutsche Befindlichkeiten dienen. Sind Sie es Leid, den Osten zu erklären?
CHRISTOPH DIECKMANN: Im Prinzip ist diese Arbeit geleistet. Ich bin ja mittlerweile nicht mehr der einzige Ostler bei der Zeit und genauso ist auch der Osten nicht mehr das, was er vor zehn Jahren einmal war. Meine Eifersucht und mein Ehrgeiz bestanden darin, den Osten wirklich als gleichberechtigtes Deutschland in den Westen zu überführen. Ich wollte dies nicht als Provokateur tun, aber meine Texte sollten genügend Widerhaken enthalten, dass sie sich für West-Leser nicht ohne jegliche Irritation runterschlucken ließen. Pointiert gesagt: Einen Teil meiner Aufgabe empfand ich als abgeschlossen, als die Länderspiele der DDR-Fußballer auch als Deutschland-Spiele galten. Im Übrigen ist der Osten nicht nur Osten, sondern Welt.
Betrachten Sie dieses Vermittlungs-Projekt als gescheitert oder gelungen?
Na, es ist gelungen - nicht so sehr durch mein Verdienst. Ich habe ja nur tatsächliche Verhältnisse geschildert, wenngleich durch die Optik und das Naturell des Autors gebrochen. Aber letztlich hat sich eine Realität durchgesetzt, die von mir erzählt wurde. Ich hatte das Bedürfnis, das wahre DDR-Leben im falschen zu beschreiben. Nicht in Leitartikelform, sondern anhand von Einzelgeschichten, die sich weniger zum Definitorischen eignen als zum Nachfühlen. Ich wollte erklären, dass es einen erheblichen Unterschied gab zwischen der DDR-Alltagsgeschichte und der DDR-Ideologie.
Gelungen? Auch nach 14 Jahren Wende scheint es noch Ost-Erklärungsbedarf zu geben...
Ich hab mich gewundert, warum diese Ostalgiewelle gerade jetzt hochkam. Der Markt dafür war vorher auch vorhanden und hätte schon nach Brussigs und Haussmanns Film Sonnenallee bedient werden können. Vielleicht hängt das ganz profan mit dem Erfolg von Goodbye, Lenin! zusammen. Andererseits bedurfte es vielleicht noch längerer Zeit des Abschieds von der Ära Kohl. Denn eins kann man diesem ja nun nicht vorwerfen: dass er kein Anti-DDR-Ideologe gewesen wäre. Mit dem Spieler und ad hoc-Politiker Schröder wurde vieles in die Ironie entsorgt. Außerdem ist mittlerweile Zeit vergangen, so dass bestimmte Kränkungen heute nicht mehr erregen. Manche Wunden sind nun doch vernarbt. Der Rest fällt unter Folklore. Wessis ziehen immer noch die Städte Sangerhausen und Sondershausen zu "Sangershausen" zusammen. Einar Schleef kommt aus "Sangershausen", Vera Wollenberger aber auch. Neulich saß ich im ICE, da kam die Durchsage: Heute hält unser Zug außerplanmäßig in St. Endal. Das sollte Stendal sein. Unglaublich. 14 Jahre nach der Wende. Ich sag ja auch nicht St. Uttgart.
Bei der medialen Ostalgie, auch bei jüngsten Veröffentlichungen wie zum Beispiel Claudia Ruschs "Meine freie deutsche Jugend" scheint es stets nur um einen hermetisch abgeriegelten Zeitraum zu gehen: Bis ´89 und nicht weiter. Woher kommt dieses Ausblenden der Nachwendejahre?
Diese Bücher sind natürlich so angelegt. Bei Claudia Rusch mag ich, dass sie eine Ambivalenz bewahrt. Einerseits erzählt sie ihre Kindheitsmuster, die in jeder Gesellschaft - auch der Diktatur - für die Unbehelligten Glück bedeuten können. Andererseits verfällt sie nicht in diese Tümelei, die unbeschädigte Einzelbiograhpie zur Gesamtgeschichte hochzurechnen. Persönliche Geschichte als Großgeschichte dargestellt, ist Lüge. Wenn die Großgeschichte aber jede persönliche dominieren will, dann ist auch das Lüge.
Kann die Ostalgiewelle überhaupt irgendetwas von der DDR verständlich machen?
Diese Fernsehshows sind strukturdumm. Was kann das Fernsehen tun? Es kann zeigen, was sichtbar ist. Und es bedient sich des Personal- und Kostümfundus eines SED-Mediums. Die eigentliche DDR war ein mündliches Land. Das Wirkliche blieb ungesendet und ungedruckt - wobei auch diese Abkürzung wiederum pauschaliert. Sonst gäbe es keine Christa Wolf- und Stephan Heym-Bücher, keine Mosaik-Comics, keine Fußballwoche. Wichtig ist die Melange zwischen Verzeichnetem und Unverzeichnetem.
Bedienen die auch besonders im Osten erfolgreichen Ostalgiesendungen nicht aber offensichtlich auch ein Bedürfnis, die dortigen psychosozialen Realitäten zu verdrängen?
Das würde ich gar nicht so hoch hängen. Die Leute machen den Fernseher an, weil da etwas läuft, das im weitesten Sinne mit ihnen zu tun hat. Der Eine erwartet vielleicht ein stimmiges Bild der DDR, der Andere will nur mal wieder die Stimme von Pittiplatsch hören. Das dürften die beiden größten Amplitudenausschläge sein. Ich halte diese Shows für ungefährlich, aber auch für ziemlich belämmert. Das ist Trash-Fernsehen; man guckt, um übers Misslungene zu grinsen. Es gibt natürlich auch Bedürfnisse, die DDR als politische Veranstaltung in ein milderes Licht zu rücken. Doch die Ablehnung dieser Jux-Shows überwiegt klar.
Wird aber nicht ein Alibi geschaffen, an den wirklichen Problemen des Ostens vorbei zu schauen?
Ich bin mir nicht so ganz sicher, ob das, was derzeit an Ostalgie abläuft, sich vor die Gegenwart stellt. Wenn dem so wäre, empfände ich das als ziemlich verheerend. Ich halte es für bedenklich, dass der Osten nach wie vor kein nationales Medium besitzt zur Selbstverständigung, zur Teilnahme an deutschen Debatten. In den landesweiten Medien dominiert unweigerlich die westlich geprägte Normalauffassung. Der Osten wird pauschal abgehandelt und bleibt dabei so etwas wie Halbausland, ein Additiv. Die Tagesschau verträgt nur einen Krieg und der Westen nur einen Osten.
Gab es im ostdeutschen Mentalitätsgefüge in den vergangenen Jahren neue Bruchlinien, Verwerfungen? Eine zweite Enttäuschung nach Rot-Grün?
Es gibt eine Desillusionierung. 1998 hat man sich von Helmut Kohl emanzipiert und die Option Schröder/SPD versucht. Jetzt hat man auch das durchprobiert und endgültig kapiert, dass die Politik der Wirtschaft gegenüber keine Weisungsbefugnis besitzt. Kurz: Der Osten glaubt nicht mehr. Die Ostler haben begriffen, dass der Westen sie nicht brauchte, dass er auch ohne sie komplett gewesen ist, sie aber nicht aufhören können, den Westen zu benötigen. Gleichzeitig bekennt sich der Ostler heute selbstbewusster zu seiner Herkunft und sieht darin keinen Makel mehr.
Im Westen gab es in der 68er Generation eine starke politische Auseinandersetzung mit der Elterngeneration. Warum bleibt ein kritischer Generationendialog zwischen DDR-Eltern und Wendekindern weitgehend aus?
Das mag damit zusammenhängen, dass die DDR viel weniger Schuld und Tabus hinterlassen hat als Hitlers Horrorregime. Alles wird bequasselt, ironisiert und unter der Hand ein bisschen verschwiegen und gerechtfertigt. Im Fernsehen laufen DEFA Filme und Ost-Jux-Sendungen, und die Bücher sind alle noch da. Es vollzieht sich so viel an uneigentlichem Gerede, dass die große Generationsaussprache nicht nötig scheint. Und für viele Ostler, Alt und Jung, ruiniert die Massenarbeitslosigkeit das Image der Demokratie.
Also gibt es keine Mitschuld aus Passivität? Keinen Rechtfertigungsdruck auf die Elterngeneration?
Der Rechtfertigungsdruck ist aus meiner Sicht nicht erheblich. Jedenfalls nicht für die gesamte DDR. Dafür haben die Eltern zu viele Entschuldungsmotive. Ein ganz großes Versagen der DDR-Gesellschaft wird nicht empfunden. Aber es gab - darauf bestehe ich - eine Fülle von Einzelversagen. Da weiß ich kein schlimmeres Thema als die Stasi: Wenn jemand Individualität und Einzelmenschlichkeit an eine Ideologie verraten hat und das damit entschuldigen möchte, dass der Staat nun einmal so verfasst gewesen ist. Da mache ich nicht mit!
Ist es nicht eine Ironie der Geschichte, wenn jetzt durch den Zugang zur Rosenholz-Kartei auch westliche Parlamentarier im Hinblick auf eine mögliche Zusammenarbeit mit dem MfS untersucht werden sollten?
Worin sollte die Ironie bestehen? Darin, dass sich jetzt auch diejenigen, die glaubten, sie seien qua Staatsangehörigkeit auf der sicheren Seite, ihrer Vergangenheit stellen müssen? Es gibt sicher eine Reihe von Idealisten, die an der restaurativen Bundesrepublik gelitten haben und naiven Glaubens meinten, der "Alternative" DDR zuarbeiten zu müssen. Andererseits gibt es auch Leute, die unentschuldbar gespitzelt haben - sei es für Geld oder sei es, weil nun mal manche Menschen in ihrem Leben ein Geheimnis brauchen.
Die Arbeit der Birthler-Behörde lässt sich nicht trennen von dem Umstand, dass die Gauck-Akten leider die einzige Errungenschaft bedeuten, die von der ´89er Revolution übrig blieb. Das ist eine Engführung dessen, was diese Revolution wollte. Mitunter wird ja diese Behörde sogar als Instanz zur Beschädigung des ostdeutschen Selbstvertrauens denunziert: Die westdeutsche Kolonialmacht bediene sich der Birthler-Behörde, um die Ostdeutschen klein zu machen.
Sie selbst haben Ihre eigenen Akten nie angefordert. Aus Desinteresse oder aus Angst vor menschlicher Enttäuschung?
Das hing damit zusammen, dass ich gerade bei der Zeit angefangen hatte und merkte, wie sich im Westen der Osten reduzierte auf das Thema Stasi. Jeder Zeit-Redakteur ist Experte für irgendetwas. Ich war nun mal der "Ostexperte". Alle Medien schrien nach Stasi-Thematik. Ich hatte aber etwas Anderes vor. Ich wollte inkompetent bleiben bei Stasifragen, war da ein bisschen arrogant. Ich wollte meinen Osten, meine Biographie ohne Stasi-Hilfe erzählen. Ich bin aus der DDR unbeschädigt hervorgegangen. Mir ist wegen meiner Pfarrhaus-Herkunft manches verhindert worden, aber mir fehlt kein Stück Biographie. Ich bin nicht zutiefst verletzt worden. Ich stand nicht vor Fragen, deren Lösung ein Aktenstudium erfordert hätte. Das war ein befreiendes Gefühl: das einfach nicht nötig zu haben.
Wie entstehen Ihre Reportagen bei der "Zeit"?
Ich neige zur oral history, möchte also als Kommentator, als Erzähler, als nominelles Ich nicht ständig präsent sein. Ich möchte, dass die Leute ihre Geschichte selbst erzählen. Oft sind das pars-pro-toto-Geschichten, die anhand des Kleinen, der Provinz, das Große spiegeln wie der Dorfteich den Mond.
Sie selbst mischen sich ja meist doch in die Reportagen ein, verklausuliert als "der Reporter" oder als mehrdeutiges "Wir". Warum reißen Sie nicht selbst den Mund auf und beziehen Stellung zu den Dingen? Ketzerischer: Dieses "durch die Blume reden", ist das Ihre ostdeutsche Sozialisation?
Warum sollte ich leitartikeln? Das stört. Ich möchte einfach so schreiben, wie ich es selber am liebsten lese. Ein Kommentar ist leicht. Erzählen, empfinden machen ist schwierig. Das Problem, polemisch gesagt, eines Großteils westdeutscher Publizistik liegt darin, dass sie so unmittelbar ist, so plump. Mich hat mal ein Westkollege gefragt, warum ich nicht direkter schriebe. Na ja, weil direkt nicht gut genug ist. Ich kann mich auch hinstellen und sozusagen aufs Papier reden. Viele dieser allzu direkten Texte sind nicht genügend gearbeitet. Ich will es auch etwas literarischer haben, damit es länger hält. Nicht nur für diese eine Woche, sondern als Teil einer Chronik, anhand derer man später ersehen kann, wie damals gelebt und empfunden wurde.
Fakt ist auch, dass ich eine Scheu, eine Unlust habe, über die politische Klasse oder die wirtschaftlichen Eliten zu schreiben, weil ich Menschen als Einzelwesen begegnen möchte. Mich langweilen Amtsträger, die immerfort taktisch reden. Ohne eine gewisse Restnaivität kann ich nicht leben.
Sie haben einmal gesagt: In der "Zeit" schreibe und predige ich dauernd Leute an, die eh schon sind wie ich selber." Müssen Sie das nicht relativieren, wenn Ihre Zeitung das transatlantische Verhältniss beschwört oder angesichts der neoliberalen Anbiederung mancher Leitartikel?
Solange ich schreiben kann, was ich denke, kann ich damit leben. Ich habe von dieser Zeitung einen weiten Begriff. Sie gibt, und sie fordert Liberalität. Dazu gehört eine Toleranzbreite, mit der etwa mein Pazifismus manchmal überfordert wurde. Ist denn George Bush kein Kriegsverbrecher?
Neben dem Osten sind zwei andere Ihrer Themen der FC Carl Zeiss Jena und amerikanischer Country. Kommt da der Kleinbürger Dieckmann durch?
Jena ist seit 1965 mein Fußballclub und seit 1993 meine Langzeit-Reportage. Mein Country heißt Americana oder Alternative Country und inszeniert sich als Antithese dessen, was der Trucker dudelt. Dichtersänger wie Townes van Zandt, Guy Clark, James McMurtry sind Seelenreporter. Mich fasziniert an dieser Musik auch die strenge Rahmung. Wenn der Rahmen hält, kann das Bild wandern. Früher war ich Free-Jazz Fan. Auf diese ständige Rahmenlosigkeit hatte ich irgendwann keinen Bock mehr. Und zum Kleinbürger-Vorwurf: Eigentlich habe ich gar nichts dagegen. Meine Abkunft ist ja das Kleinbürgertum. Ohne ein kleinbürgerliches Sensorium kommt der Reporter dem Volk nicht nahe.
Das Gespräch führte Tobias Nolte
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