Fünf Monate ist der außerordentliche Hafengeburtstag – pardon, der G20-Gipfel – in Hamburg her. Streng genommen haben sich jedoch zwei Gipfel ereignet: ein medial transportierter, den die meisten Bundesbürger per Internet und Fernsehen verfolgt haben, und ein „lokaler“ Gipfel, den ein Teil der Hamburger sowie Angereiste selbst vor Ort miterlebt haben. Beide Gipfel unterscheiden sich deutlich.
Durchgesetzt hat sich vorerst die Erzählung des Ersteren. Die wurde von Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) gleich am Tag nach dem Gipfel vorgetragen: Die Polizei habe aufopferungsvoll den Schutz der G20-Delegationen und des Gipfelgeschehens gewährleistet, sei aber gegen den Hinterhalt linksextremer Chaoten, die den Stadtteil Sternschanze in Schutt gelegt hätten, machtlos gewesen. Gegen all diese Straftäter werde man energisch vorgehen. Die oppositionelle Hamburger CDU schäumte ebenfalls und forderte gar die Schließung linker Zentren, inklusive Räumung der seit 1989 besetzten Roten Flora.
Fake News und Militarisierung
Wer in den Tagen vor den Ausschreitungen vor Ort gewesen war, traute ob dieser Wendung Augen und Ohren nicht. Einerseits eine Vielfalt an nicht gewalttätigen Protesten gegen das, wofür G20 steht, andererseits bei kleinsten Anlässen prügelnde und Reizgas sprühende Polizeieinheiten – all das schien nicht stattgefunden zu haben. Es war wieder das eingetreten, was Medienanalysen schon nach den Gipfelprotesten in London 2009 und Toronto 2010 ergeben hatten: ein Framing des Protestes, das – medial vermittelt – sich fix auf brennende Barrikaden und Autos reduzierte.
Das allein wäre eine unvollständige Analyse. Denn tatsächlich wurde nach dem Gipfel eine Agenda präsentiert, die einen umfassenden Angriff auf den linken Teil des politischen Spektrums zum Ziel hat, in dem die Partei Die Linke auf einmal als „parlamentarischer Arm der Autonomen“ gilt. Dass diese Agenda so unmittelbar nach dem Gipfel auf den Tisch kam, sollte mindestens stutzig machen.
Sicher, die Hamburger SPD versuchte auch ihre Haut zu retten, damit es im Wahlkampf nicht heißen würde: „Die Sozialdemokraten können einfach nicht innere Sicherheit.“ Doch seit Juli werden erste Konturen der Agenda sichtbar.
Da sind, erstens, die Prozesse gegen Demonstranten. Die teils drakonischen Urteile für den Tatbestand „Schwerer Landfriedensbruch“ legen den Verdacht nahe, dass hier eine politische Justiz am Werk ist. Zwar ist bekannt, dass es in der Hamburger Richterschaft immer schon eine Law-and-Order-Fraktion gegeben hat, deren trostloseste Gestalt Ronald Schill war. Doch ist etwa von Hamburger Strafverteidigern zu hören, dass sie von den Urteilen, die bis zu drei Jahren Haft reichen, gelinde gesagt überrascht sind. Ebenso davon, dass die Verteidigerin des Italieners Fabio V. vom Gericht für einen angeblichen Verfahrensfehler im Laufe des Prozesses eine Strafzahlung aufgebrummt bekam.
Da ist, zweitens, der Fokus der Ermittlungen auf die Rote Flora, die man sofort als die wahre Kommandozentrale der Krawalle identifiziert zu haben glaubte. Die Polizei stellte flugs eine 170-köpfige „Sonderkommission Schwarzer Block“ zusammen, deren erste Aufgabe es offenbar war, den Hardlinern in der Politik Argumente für eine Räumung des Hauses zu liefern. Fünf Monate später hat die SoKo keine Belege für die These von der Kommandozentrale vorzuweisen. Stattdessen ordnete sie vergangene Woche Razzien in der linken Szene in mehreren Städten an. Es ist allerdings anzunehmen, dass es hierbei nicht nur um plakativen Aktionismus für die Mainstream-Gesellschaft ging, die nach einer Verurteilung aller „G20-Verbrecher“ (Bild) giert. Tatsächlich dürfte es, wie auch schon beim Hamburger Gefahrengebiet 2014, vor allem darum gehen, die Datenbanken der Sicherheitsbehörden über die linke Szene mit Informationen aus beschlagnahmten Computern auszubauen.
Die Hamburger Politik verweigert sich, drittens, einer konsequenten Untersuchung der Gipfel-Ereignisse. Weder der rot-grüne Senat noch der konservative Teil der Opposition haben ein Interesse daran. Statt eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde ein zahnloser Sonderausschuss eingerichtet, der die brisanten Fragen nicht stellt und Bürgermeister Scholz Gelegenheit gab, gebetsmühlenartig seine Sicht auf den Gipfel zu wiederholen. Kennt man jedoch die Geschichte der Hamburger Polizei, wäre spätestens G20 der Anlass gewesen, diesen Staat im Stadtstaat gründlich unter die Lupe zu nehmen. Der Hamburger Kessel von 1986, der Polizeiskandal von 1994, die wiederholten, von Hamburger Gerichten festgestellten Rechtsbrüche des G20-Einsatzleiters Hartmut Dudde bei Demonstrationen seit den 2000er Jahren, der „Angriff“ auf die Davidwache Ende 2013, der das Gefahrengebiet 2014 begründete, sich jedoch als Fake News herausstellte – all das würde genügen, die „Hamburger Linie“ als ernstes Problem für einen demokratischen Rechtsstaat zu begreifen. Allein, es passiert nicht.
Dass es nicht passiert, hat auch mit der bürgerlichen Mitte zu tun, die den Angriff auf das linke Spektrum unterstützt, der bislang als genuin rechtes Anliegen gelten konnte. Auch diese Verschiebung wurde unmittelbar nach dem Gipfel sichtbar. Am Tag danach fiel ein „Putzmob“ ins Schanzenviertel ein, der nicht nur gut gemeint Trümmer beseitigte, sondern auch gleich Graffiti und Aufkleber von Häuserwänden kratzte, gerne auch solche mit politischen, also linken Botschaften. Unter den Putzmob trauten sich gar einige Neonazis, die in der linken Hochburg Sternschanze – ungeniert und fotografisch dokumentiert – mitschrubbten. Linke Buchverlage, aber auch Gewerbetreibende, deren Läden nicht geplündert wurden, erhielten derweil krasse Gewaltandrohungen, die selbst langjährige Aktivisten überraschten.
Die derzeitige Ruhe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seit G20 etwas zusammenbraut. Zwei Details zur Polizeiarbeit sollten besonders alarmieren: Der Einsatz von SEKs bei Demonstrationen ist nun gesetzt, wie sich bereits im September bei einer Antifa-Demonstration im sächsischen Wurzen zeigte. Und in Nordrhein-Westfalen müssen seit neuestem Polizeibeamte auch das Schießen mit Maschinengewehren trainieren, die bislang nicht zur Standardausrüstung der Polizei gehörten. Das passt wiederum zum Bau des Truppenübungsplatzes Schnöggersburg in Sachsen-Anhalt seit 2012, dessen erste fertiggestellte Teile im Oktober der Bundeswehr übergeben wurden. Schnöggersburg ist das Modell einer mitteleuropäischen Großstadt samt U-Bahn-Eingängen und Shopping-Meile; als Vorbereitung auf Einsätze in Mali taugt das eher nicht. So markiert G20 einen weiteren Schritt auch in der Militarisierung deutscher Städte.
Parallelen zum NSU-Komplex
Dass der Gipfel vor allem durch eine sich selbst überschätzende Armada von 31.000 Beamten aufs falsche Gleis geriet, dass erst eine Meuterei bayerischer Einheiten am Eingang der Sternschanze die Heftigkeit der Ausschreitungen ermöglichte, dass für den dortigen „Hinterhalt“ der Demonstranten keine Beweise gefunden werden konnten, wie die Hamburger Polizei im Oktober ebenfalls einräumte – geht unter. Die Konsequenz lautet stattdessen, dass die Polizei aufrüsten muss, um künftige Proteste im Keim ersticken zu können.
Vergleicht man die Agenda gegen links und die Militarisierung der Polizei mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes, drängt sich endgültig der Verdacht auf, dass sich auch in der Bundesrepublik ein „tiefer Staat“ gebildet hat. Es ist von einer traurigen Ironie, dass wieder einmal die Sozialdemokratie den Gehilfen spielt. Sie hat schon einmal teuer dafür bezahlt. Mindestens sie sollte ihre Lektion schnell lernen.
Derweil freuen sich die Polizeibehörden in Sachsen über ihren vom Rüstungskonzern Rheinmetall sowie MAN ausgelieferten neuen Panzerwagen "Survivor R", dessen Sitze bestickt sind mit den Worten "Spezialeinsatzkommando Sachsen" in Frakturschrift-ähnlicher Aufmachung. Und in Hamburg fahndet die Polizei nun öffentlich mit Einzelfotos nach 104 – mutmaßlichen – Straftätern während des G-20-Gipfels.
Kommentare 13
Der längst existierende Polizeistaat Hamburg ist seit Jahren Experimentierfeld des nationalen sog. „Tiefen Staates“ und seiner öffentlichen Multiplikatoren. Die Hetze nimmt mittlerweile absurde, aber auch unfreiwillig komische Formen an, wie beispielweise der Umstand, dass viele militant tätige „Demonstranten“ in den entsprechenden Polizei- und Amateurvideos nachträglich unkenntlich gemacht worden sind. Die Frage warum die meisten Fahndungsbilder Personen zeigen, die keine Gewalt ausüben, aber einige offensichtliche Gewalttäter in den zur Schau gestellten Videos ausschließlich verpixelt erscheinen, existiert in dieser Öffentlichkeit nicht.
Es wäre zu akzeptieren, wenn die Polizei die Gesetze einhalten würde und straffällig gewordene Polizisten ebenso mit Fahndungsbilder suchen würde.
Die verpixelten mussten am Montag wieder auf Streife.
Gäbe es für die polizeiliche Unkenntlichmachung überhaupt einen anderen Grund als den, die Brand stiftenden Staatschutzkommandos nicht auffliegen zu lassen?
Möglicherweise verpixeln sie Täter, die bereits identifiziert sind, was aber auch nicht ausschließt, dass es die eigenen Leute sind. Die ganze Art und Weise wie dieses Ereignis in der Öffentlichkeit beackert wird ist einer authoritären Diktatur würdig. Und gegen eine solche Diktatur hätte man in Hamburg wahrlich andere Geschütze auffahren müssen als ein paar unorganisierte und desorientierte Spontis.
Gleichzeitig ist das Pogrom von Connewitz keine einzige Meldung mehr wert. Die 100 Nazis, die im Januar 16 eine Leipziger Geschäftsstraße demolierten, Leute vermöbelten und sich anschließend vertrauensvoll zu einem Polizeibus zwecks ID-Erfassung begaben sind anscheinend nie vor Gericht gestellt worden. Dass nicht einmal der Freitag oder die taz das allerkleinste Fitzelchen darüber berichtet spricht Bände. Es ist zum Verzweifeln. Muss man sich wirklich alles auf lokalen Blogs zusammensuchen?
Das einzig positive an G20 in Hamburg ist doch, dass die Linke in Hamburg bei der Bundestagswahl so gut abgeschnitten hat. Also scheint doch bei den direkt betroffenen Bürgern dieser großartigen Stadt so etwas wie politischer Spürsinn und Erkenntnis über die Machtverhältnisse vorhanden zu sein. Aber auch darüber berichtet keine Sau. Stattdessen springt man über jedes Stöckchen der Identitären, in jeden Mußtopf der Metoos und fegt noch die letzten Kuchenkrümel in der SPD-Zentrale Stresemannstraße zusammen, auch wenn man dort schon lange nicht mal mehr Kaffe kochen kann
Die mediale Schmierenkomödie begann am Gipfelwochenende als sich eine sogenannte "bürgerschaftlichen Initiative" (Zitat Bundespräsident Steinmeier) via Facebook, mithilfe zahlreicher Medien von der Politik vereinnahmen ließ und eine "unpolitische" Aufräumaktion startete: Hamburg räumt auf
"G 20 ist keine Lizenz zum Rechtsbruch. Für Demonstranten nicht. Für die Ermittler auch nicht."
Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung
Man stelle sich vor es hätte keine Ausschreitungen gegeben....wie peinlich wäre das denn gewesen. Das zeigt mal wieder: Es braucht immer zwei zum Tanz. Die Interessen sind deckungsgleich: Krawall. Die Frage wer angefangen hat ist müßig. Henne oder Ei?
Leider wird die Polizei von der Politik instrumentalisiert, speziell in Hamburg Usus. Aber es ist so ein schönes Mittel von der eigenen Agenda abzulenken, bzw. Die eigene Unfähigkeit zu kaschieren.
http://www.fr.de/politik/rechtsextremismus/hamburg-veddel-frueherer-neonazi-in-hamburg-unter-verdacht-a-1412554 Früherer Neonazi in Hamburg unter Verdacht Ein Mann soll an einem S-Bahnhof in Hamburg einen Sprengsatz gezündet haben. Die örtliche Polizei steht nun in der Kritik, weil sie ein politisches Motiv ausschließt.
Dem widerspreche ich nicht.
Nach dem Artikel scheint man den Fall als verfrühten Sylvesterscherz zu sehen der etwas größer ausfiel.
Gut vorbereitete Polizei-ZeugenFrankfurter Rundschau-vor 14 Stunden
... wieder der bedauerliche "Einzelfall"?
Schöner Beitrag, aber leider fehlt in diesem Kontex ein weiteres sehr wichtiges Puzzle Teil. Die Zerschlagung der öffentlichen Diskussionsplattform "linksunten.indymedia.org"! Auch dafür diente der G20 als Legitimation Kulisse und schwächt nachhaltig den Widerstand gegen diese Zustände nicht nur in Hamburg. Ein weiteres Puzzelteil wäre dann, das die Junge Union bereits die Regierung? aufgefordert hat, der Antifa das Gütesiegel "Terroristische Verreinigung" zu verleihen. Mit Stimmen dieser Blauen Partei sicherlich erfolg versprechend. Das nächste Jahr wird spannend. Auf in den Kampf!