Wer für Enteignung ist, weiß: Der beste Besetzer ist immer noch die Kommune
Foto: Arnulf Hettrich/Imago Images
Schon vor 150 Jahren befasste sich Friedrich Engels mit der Gentrifizierung. In seiner 1873 erschienenen Abhandlung mit dem Titel Zur Wohnungsfrage beschreibt der Wuppertaler Fabrikantensohn fakten- reich die Vertreibung der Arbeiter aus den Kernstädten. Erstaunlich ist, dass auch bis 2019 noch keine allgemein akzeptierte Antwort auf diese zentrale soziale Frage gegeben werden konnte.
Mit ihrer Forderung, Immobilien der großen Wohnungsgesellschaften zu vergemeinschaften, hat die Berliner Initiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ nun jedoch eine lebhafte Debatte über die Sozialpflichtigkeit von Eigentum angestoßen. Die Idee der Enteignung strahlt selbst auf jene aus, die sozialistische Ideen sonst ablehnen: Auch wenn viele Befragte eine Enteignung laut
ne Enteignung laut dem Meinungsforschungsinstitut Civey noch skeptisch sehen, plädieren zwei von drei Bundesbürgern für stärkere staatliche Eingriffe, um die Mietpreise zu bremsen.Kaputte BremseEngels’ Erklärungen, warum sich das Finanz- mit dem Immobilienkapital für die Wohnungsspekulation verbindet, ist auf die derzeitige Wohnraumentwicklung übertragbar. Immobilien werden aufgrund des historisch niedrigen Zinsniveaus verstärkt als rentable Anlagemöglichkeit angesehen. Maßgeblich beschleunigt wurde die Spekulation auf dem Wohnungsmarkt durch verschuldete Kommunen, die in der Privatisierung ihrer Wohnungsbaugesellschaften den Ausweg aus der chronischen Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte sahen. Kommunen ignorieren den am Gemeinwohl orientierten „Wohnraum-Gedanken“, der den sozialen Wohnungsbau der Nachkriegszeit parteienübergreifend prägte, um mit dem Verkauf ihrer Immobilienbestände hohe Einmaleinnahmen zu erzielen. Zahlreiche Städte und Gemeinden sind dem Beispiel Dresdens gefolgt, dessen Stadtrat 2006 den vollständigen Verkauf des kommunalen Wohnungsbestands an die US-amerikanische Investorengruppe Fortress beschloss. Die Zeit sprach damals von einem Milliardengeschäft, das Dresden zur „Avantgarde der deutschen Kommunalpolitik“ mache. Die im Rahmen des Verkaufs formulierte „Sozialcharta“ zum Schutz der Mieter wurde dabei ignoriert. Kerninhalt jener Charta war neben der Garantie stabiler Mieten die Instandhaltung der Wohneinheiten. Da die Fortress-Tochter GAGFAH dieser vertraglichen Vereinbarung nicht nachkam, klagte die Stadt Dresden. Das anschließende Gerichtsverfahren mündete zwar in einem Vergleich, kostete das Unternehmen, das inzwischen unter das Dach des größten deutschen Vermieters Vonovia geschlüpft ist, jedoch 36 Millionen Euro. Der Fall zeigt, dass Kommunen auch nach Selbstentmachtung durch Privatisierung in der Lage sind, ihre Rechte gegenüber großen Unternehmen zur Geltung zu bringen.Um der Wohnungskrise jenseits der Symbolpolitik einer kaum funktionierenden und in Berlin jüngst vor Gericht gekippten „Mietpreisbremse“ zu begegnen, müssen Städte und Gemeinden dringend nicht nur in den (sozialen) Wohnungsbau investieren – sondern vor allem gemeinwohl- und nicht gewinnorientiert operieren. Wie dies funktioniert, zeigen die rund 2.000 Wohnungsgenossenschaften, die hierzulande über 2,2 Millionen Wohnungen möglichst preisgünstig an ihre Mitglieder vermieten – und damit einen kaum zu überschätzenden Beitrag zur sozialräumlichen Integration leisten. Lokal organisierte Genossenschaften bilden in städtischen Ballungszentren eine Trutzburg gegen zumeist international agierende Konzerne, die Wohnungen wie Aktien handeln.Die Privatisierungspolitik der nuller Jahre erinnert daran, dass Wohnraum in kommunaler Hand nicht zwingend gut aufgehoben ist, wenn sich diese der Schwarzen Null unterwirft. Zugleich gilt es in Erinnerung zu rufen, dass auch städtische Wohnungsbaugesellschaften selbst unter Wahrung struktur- und sozialpolitischer Vorgaben einträglich wirtschaften können: So führte die kommunale Wohnungsgesellschaft SAGA GWG, deren Marktwert auf mehrere Milliarden Euro geschätzt wird, von 2006 bis 2011 pro Jahr rund 100 Millionen Euro Gewinn an die Freie und Hansestadt Hamburg ab. Auch ein Blick in die österreichische Hauptstadt Wien lohnt. Die Metropole investiert seit rund 100 Jahren in „Gemeindebauten“, sodass inzwischen 62 Prozent der Bevölkerung in einer städtischen oder städtisch geförderten Wohnung zu Hause sind. Die Wohnungspolitik der immer wieder zur weltweit lebenswertesten Stadt gekürten Stadt Wien darf als Beleg dafür herangezogen werden, dass sich „Wohnungssicherheit“ auf die Lebenszufriedenheit auswirkt (der Freitag 51/2018).Die Stärkung kommunalen Wohnungsbaus ist gegenwärtig noch aus anderem Grund nachdrücklich anzuraten. Da die Hypothekenzinsen unterhalb der Inflationsrate liegen, werden sich die kommunalen Investitionen amortisieren. Nicht zuletzt deshalb sollte der 148 Jahre alte Befund des Finanzwissenschaftlers Lorenz von Stein auch heute noch als politische Richtschnur dienen: „Ein Staat ohne Staatsschuld tut entweder zu wenig für seine Zukunft, oder er fordert zu viel von seiner Gegenwart.“ Das Berliner Volksbegehren schlägt zudem vor, die Schuldenbremse mit einem rechtlichen Modell zu umgehen: Die kommunalisierten Wohnungen samt den Krediten zur Finanzierung der Entschädigungen sollen in ein eigenes öffentliches Wohnungsunternehmen ausgelagert werden.Die Rückabwicklung von Privatisierungen ist überfällig. So hat das Land Berlin zwar seit den 1990er Jahren mehr als 220.000 Wohnungen verkauft, aber der Rückkauf von 1.821 Wohnungen und 22 Gewerbeeinheiten im Kosmosviertel stimmt doch hoffnungsvoll – zumal der Berliner Senat unlängst auch beschlossen hat, dass die 514 Einheiten des Pallasseums in Schöneberg, darunter viele Sozialwohnungen, in öffentliches Eigentum übergehen werden. In den vergangenen vier Jahren wurde das Vorkaufsrecht in Berlin 33-mal ausgeübt. Rekommunalisierungen, die laut zuständiger Senatorin Katrin Lompscher (Die Linke) als „klares Signal an den Markt“ zu verstehen seien.Neben derlei Rückkäufen ließen sich eine Reihe anderer Maßnahmen ergreifen, um die Exzesse auf dem Immobilienmarkt in den Griff zu bekommen. Warum orientiert man sich nicht an einem Modell, wonach der Kauf einer Immobilie an die Bedingung geknüpft ist, dass der Käufer den Wohnraum für sich oder seine Familie nutzt? Ähnliche Restriktionen gibt es in vielen Ferienregionen.Wer wohnt, darf kaufenAuch die Grunderwerbsteuer könnte zur Steuerung des Wohnungsmarktes genutzt werden. Derzeit zahlen Wohnungskäufer zwischen 3,5 Prozent (Bayern) und 6,5 Prozent (Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Thüringen) Grunderwerbsteuer; ausgenommen sind lediglich Öffentlich-Private Partnerschaften, die nach dem ÖPP-Beschleunigungsgesetz einer absurden Logik folgend keine Grunderwerbsteuer zu entrichten haben. Warum privilegiert der Staat nicht den Kauf der ersten Immobilie, die für den Eigenbedarf genutzt wird, indem auf die Grunderwerbsteuer verzichtet wird? Gleichzeitig könnte sie für institutionelle Investoren angehoben werden. Auch die Grundsteuer, die gegenwärtig neu justiert wird, könnte zwischen Vermietern und Bewohnern der eigenen vier Wände differenzieren. So ließen sich institutionelle Investoren belasten und diejenigen entlasten, die Wohneigentum erworben haben, um mietfrei und eines Tages auch kreditfrei zu wohnen.Wenn der Ausschuss, der über die Einhaltung des UNO-Sozialpakts wacht, Deutschland einen „akuten Mangel an bezahlbarem Wohnraum“ diagnostiziert und sich „über die sehr hohen Mietpreise und die Mietpreissteigerungen“ besorgt zeigt – dann sind konditionierte Abwehrreflexe gegen Rekommunalisierung („Staatssozialismus!“, „Kommandowirtschaft!“) fehl am Platz. Wenn Wohnen für Millionen Deutsche zum Armutsrisiko wird, ist es Zeit, dass die kommunale Wohnungswirtschaft eine Renaissance erlebt und „Vater Staat“ aus der Tatenlosigkeit erwacht.Placeholder authorbio-1
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