A–Z Die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts wurde vor 20 Jahren verabschiedet. Symbolisch war es ein wichtiger Schritt zur Einwanderungsgesellschaft. Unser Wochenlexikon
Abstammungsprinzip „Von den Türkischstämmigen, die schon lange in Deutschland leben, erwarten wir, dass sie ein hohes Maß an Loyalität zu unserem Land entwickeln.“ Mit einem Satz drückt Angela Merkel ihre Schwierigkeiten mit der Staatsbürgerschaftsdefinition aus. Obwohl das Abstammungsprinzip nicht mehr exklusiv gilt, ist es im Denken verhaftet. Das heißt, selbst wenn Menschen den deutschen Pass haben, vielleicht sogar hier geboren wurden, bestimmt die Bundeskanzlerin über das Fremde ihrer Herkunft oder der ihrer Ahnen.
Und meint sie mit „wir“ die „echten“ Deutschen? Das Abstammungsprinzip – ius sanguinis – basiert auf der Blut-und-Boden-Idee (➝ Fremd).Kinder erhalten die Staatsbürgerschaft
0141; Fremd).Kinder erhalten die Staatsbürgerschaft eines Landes, wenn ihre Eltern dessen Staatsbürger sind. Erst 2000 wurde das Gesetz reformiert und zusätzlich das Geburtsortprinzip zur Geltung gebracht, das vor allem für die zweite Migranten-Generation vorgesehen ist. Tobias PrüwerBBeamte Der erfolgreichste Schweizer Film heißt Die Schweizermacher. Erzählt wird die Geschichte zweier Einbürgerungsbeamter, die ihre Aufgabe, Ausländern die Schweizer Staatsbürgerschaft zu ermöglichen oder zu verwehren, mit solidem Bierernst und bauernschlauer Schnüffelexpertise vollstrecken. Als bei dem einen (Emil Steinberger) im Zuge unvermeidlichen Verliebtseins in eine Aspirantin das Pflichtgefühl dem Amte gegenüber zu erodieren beginnt, wird die Prozedur zur Belastung. Der wackere Beamte entscheidet sich daraufhin tatsächlich, „dem Heimet“ den Rücken zu kehren und mit der angebeteten Ballerina ein Leben im Fahrwasser der heute gern „urbane Elite“ (➝ Vatikan) geschimpften Kulturboheme zu führen. Der Film öffnet den Blick in weit unaufgeregtere Zeiten, wo sogar Schweizerinnen und Schweizer über sich selbst lachten. Marc OttikerDDeutsche Beamte In den Anfängen meiner Berlin-Zeit musste auch ich mich als Schweizer gelegentlich mit einer Erlaubnis des Aufenthaltes ausweisen (➝ Sans-papiers). Die erste war für drei Monate – eine Art Probezeit –, die zweite dann schon für ein Jahr, die dritte für zwei Jahre, dann fünf, und bevor es die ständige Erlaubnis gab, musste noch die für zehn Jahre abgegolten werden.Die Begegnungen in der entsprechenden Behörde gingen meist eher ruppig über die Bühne, waren geprägt von gereizten, mitunter boshaften Nickeligkeiten. Mehr als einmal musste ich wegen eines fehlenden Papiers das Prozedere (spätestens um halb sieben die Nummer ziehen, um gegen 12 Uhr an die Reihe zu kommen) wiederholen. War dann tatsächlich der mit Hologramm versehene Kleber endlich im Pass, überkamen selbst mich, der von Ämtern geradezu histrionisch-phobisch abgestoßen wird, regelrechter Stolz und ein unerklärliches Wohlgefühl. Das beweist, dass man jede Tätigkeit, und sei sie auch noch so wesensfremd, mit einer Mischung aus Zwang und Schikane zu einer sinnhaften Liebhaberei konditionieren kann. Marc OttikerFFremd „Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf“ – so beginnt einer der ganz großen Hip-Hop-Klassiker. 1992 von Advanced Chemistry aus Heidelberg veröffentlicht, gilt Fremd im eigenen Land heute als ikonisch: Besser klang Conscious Rap aus Deutschland selten. Advanced Chemistry wussten, wovon sie rappten: Alle Mitglieder der Crew hatten einen Migrationshintergrund. 1992 erschienen, war das Stück der dringlichste Kommentar zu Rostock-Lichtenhagen und zur Abschaffung des individuellen Grundrechts auf Asyl – ein großes aufklärerisches Pamphlet gegen Rassismus, das nüchtern endet: „Ich hab ’nen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf, doch bin ich fremd hier.“ Marc PeschkeGGreen Card Kennen Sie den Namen der Gesichtscreme des Menschen, den Sie lieben? Nicht nur die Marke, sondern ob sie „B Triple C Facial Balancing Gel“ heißt oder „Rosa Arctica Lightweight“? Keiner weiß so etwas, nicht mal Gérard Depardieu, sonst wäre er heute vielleicht nicht Russe, sondern Amerikaner. 1990 scheiterte er in dem Film Green Card daran, sich durch eine Scheinehe die US-Staatsbürgerschaft zu ergaunern. Alles hat er über die neue Gattin auswendig gelernt, nur der Name ihrer Creme geht ihm nicht rein. Wonach die Hunde von der Einwanderungsbehörde prompt fragen. Wie sie hieß, habe auch ich trotz ihrer tragenden Rolle vergessen. Christine Käppeler HHandel Längst ist die „Festung Europa“ ein feststehender Ausdruck – für einen Staatenbund, der sich abschottet, zu dem Menschen ohne entsprechenden Pass keinen Zutritt erhalten. Es sei denn, sie sind sehr solvent. Denn wo viel Geld ist, da ist auch ein Weg, selbst über die höchsten Grenzzäune. So betreiben mehrere EU-Staaten – darunter etwa Zypern, Malta oder Portugal – ein Geschäft mit Staatsbürgerschaften. Der Deal: Wer eine bestimmte Summe im Land investiert – in Zypern sind es zum Beispiel Immobilien im Wert von zwei Millionen Euro –, darf sich über sogenannte „goldene Pässe“ freuen. Damit einher gehen auch EU-Freizügigkeit, der Zugang zum Binnenmarkt und das Wahlrecht in der EU. Die Kommission sieht im Handel mit den Staatsbürgerschaften ein ernstes Sicherheitsrisiko. Nun will sie überprüfen lassen, ob die Programme für Geldwäsche und Steuerhinterziehung genutzt werden. Benjamin KnödlerPPassdeutscher Acht Jahre ohne Sozialhilfe, unbefristetes Aufenthaltsrecht und ausreichende Beherrschung der deutschen Sprache. Keine Verurteilung wegen Straftaten. Bekenntnis zum Grundgesetz. Ja, man muss schon extrem langweilig sein, deutscher als deutsch sozusagen, um in Deutschland eingebürgert werden zu können.Deswegen lassen sich wahrscheinlich auch nur relativ wenige Nichtdeutsche einbürgern. 122.211 Personen waren es 2017 laut Statistischem Bundesamt. Die anderen bleiben ohne deutschen Pass und ohne Wahlrecht, behalten ihre alten Staatsangehörigkeiten und gehen dann ja wohl hoffentlich bald wieder dahin, wo sie hergekommen sind. So richtig deutsch können selbst eingebürgerte Passbürger niemals werden (➝ Abstammungsprinzip), denn dazu muss man schwarzrotgoldblütig sein, mit Augenfarbe deutsch und Haarfarbe deutsch, also deutsch mit deutschen Wurzeln, und die wachsen nun mal nicht nachträglich. Ruth HerzbergRReichsbürger Das Konzept ist eigentlich gar nicht mal so schlecht. Es hat was Surrealistisches, es hat was von Kunst. Man betrachtet sich selbst als nicht mehr zugehörig zum deutschen Staat. Die Bundesrepublik sei ein illegales Konstrukt, de jure nicht existent, im Gegensatz zum Deutschen Reich. Eine interessante Selbstermächtigung. Reichsbürger weigern sich, Bußgelder oder Abgaben zu zahlen oder amtlichen Bescheiden Folge zu leisten. Da der Deutsche im Allgemeinen eher obrigkeitshörig ist, könnten Reichsbürger dagegen wie lässige Anarchisten wirken. Leider aber sind sie meistens Vollspießer, die eigene Bürokratien aufbauen, anstatt ihre BHs zu verbrennen. Dem kann ich nur entgegenhalten: Make love, not eigene passports! Ruth HerzbergSSans-papiers Menschen ohne geregelten Aufenthaltstitel werden sans-papiers, „ohne Papiere“ oder „Papierlose“, genannt. Das ist eine treffendere Bezeichnung als „illegale Einwanderer“ oder „Illegale“, worin immer schon die Kriminalisierung mitschwingt. Oft haben Geflüchtete nicht die Wahl, ob sie mit der Flucht ein Gesetz übertreten wollen oder nicht – sie müssen schlichtweg überleben. Entgegen der Rhetorik von AfD und anderen rechten Positionen hat sich das Asylrecht in Deutschland seit 2015 massiv verschärft. Duldungs- und Bleibestatus erhalten immer weniger Personengruppen, was mehr sans-papiers produziert. Konkrete Zahlen existieren nicht, weshalb der Verweis auf die „Illegalen“ durch Populisten wie Horst Seehofer als solider Angstmacher funktioniert. Tobias PrüwerVVatikan Der Papst ist Vatikaner – und damit Inhaber der wohl außergewöhnlichsten Staatsbürgerschaft der Welt. Geburt (➝ Abstammungsprinzip) und Wohnsitz sind im Vatikan nämlich irrelevant, und die Möglichkeit einer heiratsbezogenen Einbürgerung ist zwar grundsätzlich vorhanden, aber wegen der beschränkten Auswahl und der freundlichen Aufforderung der katholischen Kirche zum Priesterzölibat nicht sehr aussichtsreich.Damit bleibt nur noch eine Bewerbung für den Heiligen Stuhl, wodurch man, im Falle einer erfolgreichen Kandidatur, mit sofortiger Wirkung Staatsbürger wird. Wem dies zu aussichtslos scheint, der kann sich für die Schweizergarde bewerben. Valentina GianeraWWehrpflicht Wer nicht gedient hatte, galt als Mimose, nicht als „ganzer“ Mann. Die Zeiten sind zum Glück vorbei: Heute ringt die Bundeswehr an allen Recruiting-Fronten um Bewerber*innen (m/w/d). Jeder kann, darf – muss aber eben nicht mehr. Es sieht düster aus, die benötigte Masse an potenziell qualifizierten Menschen bleibt aus.Und je nachdrücklicher früher das Narrativ der Unumgänglichkeit um den „Dienst an der Waffe“ gestrickt wurde, umso mehr erkennt man im Lichte der Wahlfreiheit, dass dieses nur dazu diente, die Pein der Zwangskollektivierung durch retrospektive Verklärung und hospitalistische Riten wettzumachen. Vor wenigen Herausforderungen hatte ich als junger Mensch mehr Angst als vor der Wehrpflicht. Welchen Ort hätte es geben können, an dem Individualität oder Feinfühligkeit weniger gewünscht war? Es ist gut, dass es keine Wehrpflicht mehr gibt. Denn es gilt: Früher war nichts besser, gar nichts. Jan C. BehmannZZwischen den Welten Vor der Geburt des Kindes noch einmal verreisen? Welches Elternpaar träumt nicht davon, die Ruhe vor dem Sturm zu genießen? Dumm nur, wenn sich die kleinen Querulanten alias Babys nicht an den Reiseplan halten und in 10.000 Meter Flughöhe auf die Welt drängeln. Ist nicht nur reichlich unbequem für die Mutter; auch die Staatsbürgerschaft der Flugbabys kann davon abhängen. Wurden sie über Festland geboren, auf dem das Territorialprinzip für Staatsbürgerschaft gilt, sind sie mit etwas Glück vielleicht US-Amerikaner (➝ Green Card). Werden sie dagegen über Wasser geboren, erhalten sie die Staatsbürgerschaft des Landes, in dem die Airline registriert wurde. Und schwups wird man zum Saudi! Wer das vermeiden will, sollte vielleicht lieber Bahn fahren. Oder Urlaub auf Balkonien in Betracht ziehen. Das nächste Klinikum ist da nicht weit. Marlen Hobrack
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.