Stabilität über alles

Wahlen & Computer Schon zweimal entschied das Bundesverfassungsgericht, dass es bei der Wahl 2005 zu Unregelmäßigkeiten kam. Gültig blieb sie beide Male trotzdem

Rund zwei Millionen Bundesbürger gaben 2005 ihre Stimme über Wahlcomputer ab – nach heutigen Maßstäben wären diese Stimmen ungültig. Das Bundesverfassungsgericht hat den Einsatz der Computer und damit Teile der letzten Bundestagswahl für verfassungswidrig erklärt. Überraschen kam das nicht. Schon vor zwei Jahren warnte der Chaos Computer Club, er könne die Zählmaschinen innerhalb einer Minute manipulieren – und belegte dies mit einem Video. Trotzdem: die Wahl von 2005 bleibt gültig, obwohl immer wieder Zweifel an ihrer Legalität laut werden.


"Tiefpunkt der demokratischen Kultur"

Den Anfang machte der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz. In der Debatte vor der inszenierten Vertrauensfrage am 1. Juli 2005, mit der Kanzler Gerhard Schröder sich die Macht durch vorgezogene Neuwahlen retten wollte, redete der Grüne leidenschaftlich gegen den Plan. Er sprach vom „Tiefpunkt der demokratischen Kultur“ – und von der „Sinnentleerung" des Artikel 68 des Grundgesetzes“.

Es half nichts. Der Bundestag entzog Schröder wie gewünscht das Vertrauen. Bundespräsident Horst Köhler löste das Parlament auf. Karlsruhe gab anschließend seinen Segen.

Posse negatives Stimmgewicht

Doch auch später kamen wieder Zweifel auf. Die bis heute letzte Debatte wurde im Sommer 2008 geführt. Anlass war der Streit um die Nachwahl im Stimmbezirk Dresden I. Weil die Direktkandidatin der NPD kurz vor dem Urnengang starb, musste die Wahl dort drei Wochen später stattfinden als im Rest Deutschlands.

Nun wurde es kurios: Die CDU rief auf ihren Wahlplakaten offen zur Nichtwahl ihrer Partei auf. Die Dresdner sollten ihre Zweitstimme lieber der FDP geben. Der Grund: Durch den bundesweiten Zweitstimmenausgleich zwischen den Landeslisten hätte es passieren können, dass ein zu hohes Zweitstimmenergebnis in Dresden die Union einen Listenplatz in einem anderen Bundesland gekostet hätte. Im Sommer entschied das Bundesverfassungsgericht: Dieser Effekt, das sogenannte negative Stimmengewicht, widerspricht demokratischen Grundprinzipien. Die Wahl 2005 war demnach nicht verfassungskonform. Annulliert wurde sie trotzdem nicht.

Der 16. Deutsche Bundestag bleibt also die gewählte Repräsentanz des deutschen Volkes – trotz zwei eindeutigen Urteilen, die seine Wahl für verfassungswidrig erklären. Hier wird die Legalität der Staatsräson untergeordnet, denn Wahlwiederholungen gefährden vermeintlich die Stabilität des Staates.

Schlechtes Beispiel: Hamburg

Das einzige Beispiel für eine wiederholte, große Wahl in Deutschland bestärkt die Kritiker in dieser Überzeugung. 1993 erklärte das Hamburger Verfassungsgericht die Bürgerschaftswahl von 1991 für ungültig und setzte Neuwahlen an. Der Grund: Bei der Aufstellung der Landesliste der CDU wurden die Kandidaten nicht gewählt, sondern in konspirativen Sitzungen ausgekungelt. Dagegen klagte eine Gruppe ehemaliger CDU-Mitglieder, die sich dann auch zu einer neuen Partei zusammen schlossen – der STATT-Partei. Diese Übersprang im ersten Anlauf direkt die Fünf-Prozent-Hürde und bildete eine Koalition mit der SPD unter Henning Voscherau. In den nächsten Jahren allerdings zerlegte sich die STATT-Partei selbst. 1997 flog sie wieder aus der Bürgerschaft, was auch das Ende der Amtszeit Henning Voscheraus bedeutete.

Vielleicht bereut er deshalb heute, die Entscheidung des Landesverfassungsgerichts nicht in Karlsruhe angefochten zu haben. Dort geht es schließlich weniger um korrekte demokratische Verfahren, sondern um Stabilität – das haben die Urteile zur Bundestagswahl 2005 wieder eindeutig belegt.

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