Staccato der Bohrhämmer

Schläge und Schüsse Wenn Israelis und Palästinenser gemeinsam gegen die "Mauer" protestieren

Biddu, eine kleine Stadt nordwestlich von Jerusalem, liegt sowohl in Sichtweite von Ramallah als auch der eigentlichen Hauptstadt der Palästinenser. Doch das viel besungene Jerusalem ist für die Bewohner von Biddu wie für die meisten Palästinenser unerreichbar - eine verbotene Stadt. Die Ikone millionenfacher Sehnsucht, die goldene Kuppel über dem Haram-al-Sharif, hängt in fast jedem palästinensischen Haushalt überall auf der Welt. Kunstvoll gerahmt und hoch oben an der Wand. Sei es in den Behausungen der Flüchtlinge im Libanon, sei es in den Häusern arrivierter Palästinenser in den USA. Die meisten haben das, woran sich ihr Heimweh klammert, noch nie gesehen - sie kennen nur den goldgerahmten Mythos.

Planiertes Band der Apartheid

Man braucht für die 20 Kilometer von Jerusalem nach Biddu anderthalb Stunden Fahrtzeit, um einen Checkpoint und zwei Roadblocks zu passieren, und muss dreimal das Taxi wechseln. An diesem Tag Ende Mai gibt es eine Demonstration gegen den israelischen Sicherheitswall, die teilweise bis zu sieben Meter hohe Mauer aus Stahl und Beton, hinter der das Westjordanland interniert wird. Teilnehmer sind Bewohner aus Biddu, Aktivisten des International Solidarity Movement (ISM) und junge israelische Anarchisten um Jonathan Pollack. Auch durch das Gebiet von Biddu zieht sich das Monument der Apartheid, verschlingt Olivenbäume und Orangenhaine, trennt Familien, zerstört hier wie an vielen Orten die Lebensgrundlagen Palästinas. Die Green Line - die Waffenstillstandslinie aus dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 - verläuft etwa fünf Kilometer entfernt, das heißt, die Mauer der Israelis schneidet tief in palästinensisches Land.

Die Demonstration nähert sich mit Transparenten und palästinensischen Fahnen der Baustelle, hinter der die israelische Siedlung Giv´on Ha-Kaduscha liegt. 200 Meter davor muss der Zug halten. Soldaten mit Schutzhelmen und Plexiglasschilden sind aufmarschiert. Auf einem Haus am Rande des Camps liegen Scharfschützen, ebenso zu beiden Seiten des Gebäudes, dahinter Berittene, modernen Samurais ähnlich.

Vor einer Woche wurde mit dem gleichen Aufgebot eine Frauendemonstration attackiert - Schlagstöcke sausten nieder und verletzten viele, auch Tränengas und gummiummantelte Geschosse wurden eingesetzt. Besonders hart traf es Frauen aus Israel, die offenbar für ihre Solidarität mit den Palästinenserinnen bestraft werden sollten.

Diesmal sind die israelischen Anarchisten mit Masken und Wassereimern auf das Tränengas vorbereitet. In ihrem Rücken nähert sich ein Militärjeep. Sie gehen in die Hocke. Das Partisanenlied Bella ciao wird angestimmt, dann Bandiera rossa - italienische Internationalisten vom ISM, schwarz gekleidet mit dem weißen "A" im Kreis, halten ein Transparent hoch: "The Wall Must Fall!" Setzen die Lieder kurz aus, ist das Staccato der Bohrhämmer auf der Baustelle zu hören.

Inzwischen bauen palästinensische Jugendliche Barrikaden zum Schutz gegen die berittene Polizei. Der unvermeidliche Autoreifen brennt, abgerundet wird das martialische Bild durch das internationale Pressekorps, 20 Kämpfer im Dienste der Wahrheit, ausgerüstet mit Helmen, kugelsicheren Westen und weithin sichtbaren Aufschriften in grellem Weiß: "AP" oder "Press". Die Gasmaske eines AP-Korrespondenten sieht zum Fürchten aus.

Zunächst greifen die Israelis nicht an, was an den journalistischen Beobachtern liegen mag. Außerdem haben die Soldaten von den Demonstranten nie etwas zu befürchten. So auch heute nicht. Und doch krümmt sich plötzlich ein Palästinenser im Staub. Unterdrückung hat kein System, braucht kein System; sie funktioniert am besten unberechenbar.

Gebet auf geraubtem Land

Seit Anfang April - in nur acht Wochen - wurden bei solchen Protesten gegen den Mauerbau sechs unbewaffnete palästinensische Demonstranten erschossen, zahlreiche verletzt, darunter auch Israelis und Aktivisten aus Europa. Die Internationalen, die immer noch am ehesten verschont bleiben, sind von Aktionen gegen die Mauer nicht mehr wegzudenken; ohne sie würde vermutlich jeder friedliche Protest im Kugelhagel erstickt. Auch dieses Mal gehen sie, sobald die Soldaten aufmarschiert sind, an die Spitze des Zuges, um die Palästinenser zu schützen.

Am nächsten Tag, es ist Freitag und damit Sabbat, wird noch einmal demonstriert, während die Arbeit auf der Baustelle am Mauerabschnitt Biddu ruht und das israelische Militär den Palästinensern erlaubt, ihr Gebet auf dem Land zu verrichten, das ihnen geraubt wurde. Alles bleibt friedlich.

24 Stunden später erscheint in der liberalen israelischen Zeitung Ha´aretz ein Foto, auf dem ein Junge zu sehen ist, der von einem israelischen Polizisten unter Zuhilfenahme des Schlagstocks "in den Schwitzkasten genommen" wird. Was war geschehen?

Als sich die Demonstration aufgelöst hatte, waren Kinder aus Biddu und ein Pressefotograf zurückgeblieben. Die im Hintergrund wartende Grenzpolizei griff abrupt zu, nahm vier Jungen fest, verletzte einen fünften und schlug die Mutter eines Palästinensers, die ihrem Sohn zu Hilfe eilen wollte.

Im verzerrten Gesicht des Jungen auf dem Foto von Ha´aretz steht der Schrei nach Gerechtigkeit - die Besatzungsmacht hat darauf wie gewohnt geantwortet, mit Schlägen, Tränengas und Schüssen.


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