"Wenn Schönheit allein das Kriterium gewesen wäre, dann hätte Görlitz keine Konkurrenz zu fürchten gehabt." Ungewollt legte die Neue Zürcher Zeitung mit ihrem tröstlich gemeinten Satz den Finger auf die Wunde. Mit dem Titel "Kulturhauptstadt Europas" werden eben keine attraktiven Stadtbilder honoriert. Vielmehr geht es darum, was ein Gemeinwesen verspricht, aus sich zu machen - und das zum Gewinn einer breiteren europäischen Öffentlichkeit. Allerdings scheinen die maßgeblich Beteiligten unter "Kulturstadt" vor allem die Stadt als Bühne zu verstehen. Für eine Saison wird alles aufgeboten, was ohne Festspiel-Sonderetat kaum noch zu bezahlen wäre: traditionell erbauliche wie experimentell irritierende Kunstproduktionen für
für die gebildeten Stände, Spektakel und Feiertagslaune fürs touristische Volk. Dass Kultur auch mehr als ein "weicher Standortfaktor", nämlich Instrument aktiver Krisenbewältigung sein kann, welches man gerade angesichts ungewisser Zukunft mehr denn je braucht, wird gemeinhin verdrängt. Kultur ist, was man sich leistet, wenn sonst alles einigermaßen läuft. Bei Orten, denen das Wasser bis zum Hals steht, wird mit Kultur kaum gerechnet.Aus diesem engen Kulturbegriff hatte Görlitz ausbrechen wollen, indem es sich mit Zgorzelec, der Schwesterstadt auf dem polnischen Neiße-Ufer, auf eine binationale Bewerbung verständigte und damit seine Lage im Dreiländereck mit Polen und Tschechien thematisierte. Ist doch die Normalisierung nachbarschaftlicher Verhältnisse, auch nach der formellen EU-Erweiterung, an dieser Grenze noch immer ein holperiger Weg - und damit eine Kulturaufgabe allerersten Ranges.Aber nicht nur der Grenzlage wegen war Görlitz mit dem Elan der Verzweiflung angetreten. Die miserable Situation der Stadt ist unmöglich zu übersehen. Nachdem vier Fünftel ihrer gewerblichen Arbeitsplätze verloren gingen, führt sie inzwischen viele Negativbilanzen des Freistaates Sachsen an. Ende 2005 betrug die Arbeitslosenquote 24,9 Prozent, 18,7 Prozent aller Görlitzer beziehen ALG II. Von vormals 85.000 Einwohnern ist nahezu jeder Vierte abgewandert. Ein Spitzenreiter in Sachen prekärer Perspektiven also - und nirgendwo Neugier, wie unter solchen Konditionen Kultur zu buchstabieren wäre, als ein Grundpfeiler von Lebensqualität? Oder treibt die Angst der Bessergestellten, in aufschwungfernen Peripherien würde nur noch ödes Provinzlertum gedeihen?Dabei hat Görlitz viele Freunde, sogar zahlungskräftige. Längst zur lokalen Legende geworden, hilft ein anonymer Sponsor der Stadtkasse alljährlich mit einem siebenstelligen Betrag. Weniger heimlich engagiert sich die Deutsche Stiftung Denkmalschutz. Dank deren Fürsorge ergoss sich ein Geldregen über die Stadt, nahezu 350 Millionen Euro flossen allein in das historische Zentrum. Keine ostdeutsche Stadt hat eine derart umfassende Generalrenovierung erlebt. Und trotzdem - zur Jahrtausendwende stand in der mit Renaissance, Barock und Jugendstil reich gesegneten Altstadt beinahe jede zweite Wohnung leer. Irgendwas war schiefgelaufen zwischen Architekturschönheit und praktischem Daseinszweck: Aufwändige Sanierung macht Wohnungen immer teurer, Deindustrialisierung macht Bewohner immer ärmer. Wie ist über Baukunst und Stadtschicksale zu reden in Zeiten der Globalisierung? Steuerlos sich selbst überlassen, stapft der Strukturwandel über alles hinweg, über Schlösser und Katen, über Gründerzeit wie Plattenbau. Von ihm ausgemusterte Städte stürzen in regelrechte Daseinskrisen: Wer soll, wer kann sie sich in Zukunft noch leisten? Heute freuen sich alle, wenn ein paar bessergestellte Pensionäre aus dem Westen in Görlitz ihren Alterssitz nehmen. Aber ist "Rentnerparadies" eine ernstzunehmende Perspektive? Und wenn ja, wie lange noch?Die ökonomisch bedingte Umstrukturierung vieler Siedlungsräume, verschärft durch die demografische Krise, wird ganz Europa noch heftig beschäftigen. Grund genug, hier nach Möglichkeiten wie Grenzen von Kultur zu forschen. Auch Essen hatte ja bei dieser Umbruchsituation angesetzt. Die Suche nach urbanen Überlebensstrategien - als strapazierfähige Stadtregion - bestimmt auch dort die Kulturstadt-Idee. Mit dem Unterschied, dass für den von jeher politisch umsorgten Ruhrpott die "Kulturhauptstadt" nur eine Event-Option unter vielen darstellt. Zwischen Duisburg und Recklinghausen, ja selbst in Gelsenkirchen sind immer noch allerhand Ressourcen zu verteilen. Görlitz, das laut Bewerbung "from the middle of nowhere to the heart of Europe" aufbrechen wollte, bleibt vergleichsweise alternativlos in seinem deprimierenden Abseits zurück. Wie weit jenes "nowhere" schon den Ernstfall realer Chancenungleichheit darstellt, davon kann man sich in Brüssel, so mitten im "Herzen Europas", noch immer keine rechte Vorstellung machen. Görlitz trägt kein tragisches Einzelschicksal, sondern bringt den Ernst der Lage von immer mehr Städten besonders krass ans Licht. Allein das hätte eine entsprechende Geste europaweiter Aufmerksamkeit verdient gehabt.