In den Hügelketten, die Suchum umgeben, haben die Bauherren der Vergangenheit imposante Blumenschalen entlang der Haarnadelkurven platziert. Triumphbögen erheben sich, um den Sieg im Zweiten Weltkrieg gebührend zu feiern. Durch die abchasische Hauptstadt selbst gleitet die Eisenbahn auf einer erhöhten Trasse, die auf breiten dorischen Säulen ruht. Als ob das nicht genug wäre, verstecken sich Kurhotels zwischen den Palmen wie griechische Tempel in der Badestadt Gagra. Balustraden flankieren die Promenaden, auf denen einst sowjetische Touristen spazierten, während die Sonne im Schwarzen Meer unterging.
Heute in Abchasien unterwegs zu sein, das ist wie die Reise durch ein riesiges urbanes Kunstwerk, das einer bestimmten Art von Architektur zugewandt ist, die
ist, die häufig sozialistischer Klassizismus, manchmal Stalin’sche Neorenaissance oder einfach Stalin-Stil genannt wird. Die Bauweise griff auf Schönheitsideale der Antike zurück, um dem Kommunismus ein würdiges Gepräge zu geben. Bauten dieser Stilrichtung entstanden zwischen 1935 und 1955 überall in der Sowjetunion, aber besonders Abchasien fand sich bedacht. Josef Stalin liebte diesen Teil des sowjetischen Imperiums mit Hingabe. Vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zu seinem Tod 1953 verbrachte er etwa die Hälfte seiner Zeit in der kleinen Schwarzmeer-Republik, genoss das angenehme Klima und eine üppige Natur, ähnlich seinem heimischen Georgien.Baumeister in Angst„Stalin besuchte Abchasien oft und wollte hier seinen Urlaub verbringen. Deswegen sollte die Republik einen repräsentativen Anblick bieten. Es wurde außerordentlich sorgsam gebaut“, meint Georgij Baronin, einer der führenden Architekten im Kaukasus und Experte für sowjetische Baukunst. Eine Baseballmütze tragend und bewaffnet mit einem Regenschirm als Schutz gegen das launische, subtropische Wetter, zeigt er bei einem Spaziergang durch Suchum auf ein Gebäude nach dem anderen, das nach dem Geschmack Stalins des Sowjetreiches würdig war. „Die damaligen Machthaber wollten etwas Außergewöhnliches vorzeigen. Sie versuchten, das Versprechen des Sozialismus zu erfüllen, indem sie schöne, prächtige Gebäude zum Wohl der Menschen errichten ließen. Die Architektur sollte bestätigen, dass die Bürger gut wohnten, weil das Leben im Sozialismus wunderbar war. Deswegen geriet der Baustil pompös. Die Häuser sollten fantastisch aussehen, mit großen Toren, hohen Säulen, Balkonen und vielen Dekorationen“, erklärt Baronin und fügt hinzu: „Bis heute sind diese Gebäude die besten, die wir haben. Materialien waren tadellos, die Wohnungen warm und trocken. Man betrieb damals einen enormen Aufwand.“Alle Vorzüge haben eine Schattenseite, die in Suchum auf die repressive Natur des Stalinismus weist. „Ingenieure, Handwerker und Architekten gaben sich die größte Mühe. Sie hatten Angst, als ,Volksfeinde‘ gebrandmarkt zu werden, falls sie nachlässig arbeiteten. Denn dann musste man befürchten, ins Lager nach Sibirien geschickt zu werden, Also arbeitete jeder extrem hart. Die Angst beim Bauen war ein steter Motivator“, erzählt Baronin und bleibt vor der Philharmonie stehen, holt sein Notizbuch hervor und fängt an, die Säulen zu skizzieren, die einen wichtigen Teil der Konstruktion bilden. „Die sowjetischen Bauherren dieser Epoche übernahmen viele Elemente der Antike und überarbeiteten die griechischen und römischen Schönheitsideale für ihre Zwecke. Zum Beispiel bauten sie Symbole des Kommunismus wie Hammer, Sichel und Sterne ein. Darüber hinaus sollten die Gebäude von ihrem Credo her national in der Form und sozialistisch im Inhalt sein“, so Baronin.Als respektabler Kenner zeigt er auf die Säulenköpfe und vergleicht sie mit seiner Skizze, in der einige Details hervorgehoben sind. Rund um die Kapitelle ionischer Säulen sind verschnörkelte Verzierungen traditioneller georgischer Volkskunst zu sehen. „Jede der 15 Republiken der Sowjetunion gebrauchte die Muster und Dekorationen ihrer Kultur. Jeder hatte seine Art des Stalin-Stils. Die lokale Variante hier in Abchasien verbindet Inspirationen aus der Antike und eine sowjetische Symbolik mit georgischer Einzigartigkeit“, so Baronin.Der georgische Einschlag korrespondiert mit der Erinnerung an einen tragischen Konflikt. Unmittelbar nach der Selbstaufgabe der Sowjetunion Ende 1991 brach ein blutiger Bürgerkrieg zwischen Georgiern und Abchasen aus. Ein Ergebnis war, dass Abchasien am 23. Juli 1992 seine Unabhängigkeit ausrief, auch wenn damit die Feindseligkeiten noch keineswegs beendet waren. Die mit den Kampfhandlungen ausgelösten Verwüstungen wurden durch den postsowjetischen Abschwung verstärkt, die Architektur der Stalin-Ära fand sich in einen erbarmungswürdigen Zustand versetzt. Es war nun erst recht unmöglich, dieses kulturelle Erbe in Gänze zu erhalten.Geraubtes InventarEin Schatten verdunkelt das Gesicht des sonst so vitalen, eifrig gestikulierenden Fremdenführers, als er durch eine Absperrung lotst, die zum ehemaligen Hauptbahnhof Suchums führt. „Dies war eines der schönsten Gebäude der Stadt – der Prototyp für den Stalin-Stil in seiner georgischen Variante“, hallt die Stimme Baronins unter den hohen Bögen nach, während er sich besorgt umschaut. Lichtstrahlen dringen nur mühsam zwischen den Schalbrettern hindurch in den ehemaligen Wartesaal. Der riesige Eisenbahnpalast ringsherum scheint in Auflösung begriffen. Schimmel und Fäulnis haben sich an den Wänden ausgebreitet. Klaffende Löcher in der Decke wecken Einsturzfantasien. Büsche und üppig wuchernde Gewächse strecken ihre grünen Krallen aus, auf dem Boden lagern Berge von Schmutz und Müll. Welt und Zeit scheinen stillzustehen.Ein kurzer Regenguss hinterlässt Ringe an der Oberfläche von Pfützen, in denen sich Säulenreihen und Balustraden des Bahnhofs spiegeln. Für einen Moment kommt es einem fast so vor, als ob die kleinen Seen Szenen aus der Zeit reflektieren, als dieses Bahnhofsschloss vor Hektik und Reisefreude schäumte. Vor ein paar Jahrzehnten noch trugen Tausende von Feriengästen in kurzärmeligen Hemden oder dünnen Kleidern im Sommer ihre Koffer durch die schöne Ankunftshalle. Oft hatten sie Zugfahrten von mehreren Tagen hinter sich und sahen Wochen der Entspannung am Schwarzen Meer entgegen. Die Touristen kamen aus allen Gegenden der Sowjetunion und in der Regel mit dem Expresszug hierher – sei es aus der Hafenstadt Murmansk, nördlich des Polarkreises, oder aus Omsk, Moskau, Irkutsk und Leningrad.Gerade erleichtert sich ein streunender Hund an einer der bröckelnden Säulen. Das Tier verschwindet durch den hohen Rasen des Rangiergeländes zwischen toten Gleisen und abgestellten Waggons, deren Coupés niemand mehr betreten dürfte. Irgendwo knarren Fensterflügel im Wind.Unser Spaziergang führt in Richtung eines einst eleganten Aussichtskomplexes über Suchum und damit zu einem weiteren Denkmal des sozialistischen Hochklassizismus. Der sich in Serpentinen windende Weg nach oben führt an Straßenlaternen ohne Glühbirnen vorbei, geborstenem Geländer, überwucherten Treppenaufgängen und ausgetrockneten Brunnen und Blumenkübeln. Die früher offenbar vornehmen Restaurants auf dem Plateau ganz oben sehen wie heruntergekommene Ruinen aus, die Fenster eingeschlagen, das Inventar entwendet, die Fassaden mit Einschusslöchern übersät. „Ich erinnere mich noch, wie eine gedämpfte Lautstärke über den Tischen stand. Auch daran, dass sie hier das beste Grillfleisch der Stadt servierten. Leider ist nur die Aussicht geblieben, aber diese ist und bleibt hervorragend.“ Es ist, als wollte Baronin sagen, dass das Savoir-vivre viel galt in Suchum. Er schaut auf die im vergehenden Licht liegenden Dächer seiner Geburtsstadt, wo so manches oder so vieles in der feuchten Hitze Abchasiens zugrunde geht.„Unser Staatsbudget ist sehr begrenzt. Es gibt kein Geld, um die Gebäude zu erhalten, geschweige denn zu restaurieren“, sagt der Architekt. „Das ist besonders tragisch, wenn man bedenkt, was verlorenzugehen droht. Die Architekten dieser Stadt gehörten zu den besten der Sowjetunion, und sie konnten sehr viel mehr, als Denkmäler zu errichten. Manches wenigstens sollte wiederhergestellt werden – zur Freude der Menschen in dieser Republik.“ Vorerst allerdings spazieren wir weiter durch die vergehende Architektur einer vergangenen Zeit. Man hat den Eindruck, als werde die Sowjetunion derzeit ebenso durch Ruinen konserviert wie mancherorts die Hinterlassenschaft des Römischen Reiches oder des antiken Griechenland. Der Unterschied besteht darin, dass in Suchum überall die Armierungen zum Vorschein kommen, dass Elektrokabel und Stahlbänder in den Trümmern herumliegen.Placeholder infobox-1
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