Von 1970 bis 1977 war ich Aktivist der maoistischen KPD/AO. Das war kein Diskussionszirkel. An einem typischen Tag verteilte ich früh Flugblätter vor der Fabrik, agitierte dann Studenten, war mittags wieder vorm Tor, nachmittags Stadtteilarbeit und abends Zellensitzungen. Ich war Chefredakteur der Zeitung Dem Volke dienen und nahm an zahllosen Demonstrationen teil, gelegentlich mit Gewalt auf beiden Seiten. Die Narben habe ich noch. Mit 25 konnte ich ein Flugblatt in einer Stunde schreiben und drucken, eine Arbeiterschulung zum Kapital leiten, ein Wahlkampfteam organisieren. Ich habe in kurzer Zeit viel gelernt. Vor allem, wie der Totalitarismus funktioniert.
Was hat das mit 68 zu tun? Viel. Denn die K-Gruppen waren eine Antwort auf 68. Die Antithese zur antiautoritären Bewegung, die den Geist des radikalen Protests in einer Art Hegel’scher Synthese auf eine neue Stufe heben sollte. Helmut Lethen meint, die K-Gruppen hätten die glühenden Kernbrennstäbe von 68 abgekühlt, die anderweitig als Terror explodierten. Aber das war Wirkung, nicht Absicht.
DKP, Drogen und Depression
Hier muss ich kurz ausholen. Heute bezeichnet sich jeder, der damals mal auf einer Demo war oder den eigenen Vater als Nazi beschimpft hat, als 68er. Wenn man diesen „68ern“ glauben soll, haben erst sie die Entnazifizierung und Demokratisierung der Bundesrepublik bewirkt, die sexuelle Revolution sowieso. Auch rechts der Mitte ist 68 noch wirkmächtig: AfD-Führer Jörg Meuthen beschrieb seine Partei als Alternative zu einer „links-rot-grün versifften 68er Ideologie“. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Marco Buschmann, will „endlich das 68er-Denken überwinden“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt fordert eine „konservative Revolution als Antwort auf die Revolution der 68er“.
Doch 68 war nicht Ursache der Modernisierung, sondern ihr Symptom. Die Demokratisierung war Ergebnis der Westbindung. Die sexuelle Revolution beginnt 1957 mit der Pille. Die Entnazifizierung 1958 mit der Einrichtung der Ludwigsburger Zentralstelle zur Verfolgung der Naziverbrecher. 1964 erreicht sie mit dem Auschwitz-Prozess in Frankfurt und dem Eichmann-Prozess in Jerusalem ihren Höhepunkt. Die 68er hingegen beklagen den deutschen „Judenknax“ (Dieter Kunzelmann), wollen das „deutsche Volk vom Faschismus freisprechen“ (Ulrike Meinhof) und solidarisieren sich mit palästinensischen Terroristen, die Israel vernichten wollten.
Will man in der „außerparlamentarischen Opposition“ (APO) der Jahre 1965 bis 1968 irgendetwas Positives erkennen, so war es der Impetus, die Teilung in Ost und West zu überwinden durch einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, wie ihn Alexander Dubček in Prag und die revolutionären Studenten und Arbeiter des Pariser Mai forderten. Der DDR-Flüchtling Rudi Dutschke war deutscher Patriot; der Ost-Berliner Dichter Wolf Biermann Held der „Neuen Linken“ im Westen. Nicht zufällig stellten sich die moskautreuen Kommunisten gegen die 68er in Paris und West-Berlin.
Die SPD, die sich unter Willy Brandt zu einer strammen Partei des Kalten Krieges entwickelt hatte, wurde von der APO kalt erwischt. Gegen die 68er-Hoffnung auf Revolution in Ost und West setzte Brandt nach dem Regierungsantritt 1969 auf ein Arrangement mit der Sowjetunion, die eben erst Panzer gegen die Reformkommunisten in Prag geschickt hatte. Gleichzeitig ließ Brandt eine moskautreue kommunistische Partei wieder zu. Sehr bald hatten die gut finanzierten und organisationstüchtigen DKP-Kader einen Großteil der Studentenvertretungen und Betriebsräte in ihrer Hand. Die K-Gruppen waren eine Antwort auf diese feindliche Übernahme von 68. Hinzu kam, dass die hedonistische Revolution, die erst 68 hervorbrachte, bald die Bewegung bedrohte. Um wieder von mir zu reden: Das für mich prägende Erlebnis waren 1963 die Beatles. Eine fast religiöse Erfahrung. „Yeah, yeah, yeah!“ könnte man mit Karl Marx als Schrei der bedrängten Kreatur bezeichnen. Als ich mir die Haare wachsen ließ, um wie meine Idole auszusehen, schickte mich die Leitung meines Reforminternats nach Hause. Ich solle erst wiederkommen, wenn ich „wie ein Mann“ aussähe. So wie mir erging es Teenagern überall in der Republik, und die „antiautoritäre Revolte“ bedeutete für uns im wesentlichen Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll, mit etwas halb verstandenem Mao, Marx und Marcuse garniert.
In meiner Abiturklasse 1969 waren wir 15. Von denen wurden drei Drogendealer. Ich selbst begab mich auf eine selbstmörderische Suche nach dem ultimativen LSD-Trip. Andere Freunde waren weiter: Kokain, Opium, Heroin. Zwischen DKP, Drogen und Depression schien der Funke von 68 endgültig erloschen, ganz abgesehen vom Mordanschlag auf Rudi Dutschke und der Ratlosigkeit der Revolutionäre von einst.
Aus dieser Lethargie weckte mich ein iranischer Schulfreund, der mir vorwarf, seine gegen den Schah kämpfenden Landsleute im Stich zu lassen. Ich solle endlich mit den Drogen aufhören und mich zum Kampf melden. Es klingt wie die Katharsis eines schlechten Hollywood-Films, aber ich hörte auf – cold turkey – und machte mich auf die Suche nach dem Rest der Revolution. Vermutlich schulde ich diesem Mitschüler – und der KPD/AO – mein Leben.
Die dritte Befreiung
Die „Vorläufige Plattform der Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands“ vom 13. März 1970 beginnt mit dem Aufruf: „Die Kritik der Studentenbewegung und die Selbstkritik entfalten!“ Die Studentenbewegung wird kritisiert, weil sie zwar Ideen entwickelt habe, sich jedoch um die Organisationsfrage gedrückt habe. Die Selbstkritik bezog sich auf das „bohemienhafte studentische Leben“. Wolle man „dem Volke dienen“, müsse man sauber, pünktlich, diszipliniert und zuverlässig sein, die Regeln der Konspiration beachten, Kritik und Selbstkritik üben und sich dem demokratischen Zentralismus unterwerfen.
Heutigen 20-Jährigen mag die Attraktion eines solchen Aufrufs – und der entsprechenden Praxis, zu der gehörte, sich die geliebten Haare kurz zu schneiden – unerklärlich sein. Aber man weiß, dass Erlösungssekten aller Art unter den verlorenen Seelen fischen, und zum Erbe von 68 gehörten viele Verzweifelte. Endlich Sinn und Form in seinem Leben zu haben, das war nicht nur für mich eine Befreiung. Was die KPD/AO im Einzelnen vertrat, war demgegenüber zweitrangig, und in der „Vorläufigen Plattform“ findet sich darüber fast nichts außer einem Bekenntnis zum Marxismus-Leninismus und zu dessen „Weiterentwicklung durch Mao Tse-tung“. Auch das kennen wir aus der Religionssoziologie: Zuerst kommt der Beitritt zur Kirche – dann erst die Übernahme ihrer Dogmen, dann freilich inbrünstig und unkritisch.
Ich will nichts beschönigen. Die KPD/AO war verfassungsfeindlich, verbohrt, ja verrückt, und im Übrigen in ihrem extremen Antizionismus antisemitisch. Dabei gehörten hochintelligente, witzige, charmante und warmherzige Leute zu ihrem Kaderstamm: Christian Semler, Rüdiger Safranski, Helmut Lethen, Karl Schlögel, Alexander von Plato, Elisabeth Weber, Helga Hirsch, Ruth Haase und viele andere. Sie alle – wir alle – brachten der Partei ein sacrificium intellectus dar. Was auch eine moralische Dimension hat. Dementsprechend löste ich mich zuerst nicht wegen ideologischer Differenzen von der Partei, sondern wegen eines Burnouts. Ich konnte nicht mehr. Erst danach begann ich wieder als Individuum zu denken und zu fühlen. Meine Frau und ich kauften uns einen Ikea-Sessel; solchen bürgerlichen Luxus hatten wir bislang verschmäht. Nach fast sieben Jahren, in denen ich nur Arbeiterlieder oder revolutionäre Volksmusik gehört hatte, leistete ich mir John Lennons Album Rock ’n’ Roll. Und eines Nachmittags blieb ich vor einer Buchhandlung stehen, in deren Schaufenster ein Bericht über „Maos Gulag“ lag. Wir hatten so etwas immer als Propaganda der CIA oder des KGB abgetan. Eine Stunde lang rang ich mit mir. Schweißnass ging ich schließlich hinein und kaufte das Buch. Es war die dritte Befreiung: 1963 die Beatles. 1970 die KPD/AO. 1977 der Bruch mit dem Kommunismus. Wenig später wurde ich Lehrer. Aber das ist eine andere Geschichte.
Kommentare 9
Lieber Alan Posener: Der Geist von 68 war Ausdruck eines guten Willens, er war links und liberal.
Alan Posener lässt, wie viele aus seiner Generation, kaum ein gutes Haar an 68 und der K-Gruppen-Bewegung. Ja, man kann vieles kritisieren, den Dogmatismus, das Autoritäre, die RAF, auch den Antisemitismus. Jürgen Habermas und Götz Aly rückten 68 sogar in die Nähe des Faschismus. Zu den Fehlern und Versäumnissen der 68er-Bewegung gehören u.a. einfache Antworten auf komplizierte Fragen, ihre Heilsversprechungen, das Freund-Feind-Denken, wie wir es heute wieder bei linken und rechten Populisten und Apokalyptikern wiederfinden, aber auch die Bevorzugung der Basisdemokratie und die Entwertung der Institutionen der parlamentarischen Demokratie. Gleichwohl ist es auch ihr Verdienst, die Schwächen der repräsentativen Demokratie erkennbar gemacht zu haben. Die 68ger gab es jedoch nicht als homogene politische Gruppierung mit einem einheitlichen politischen Programm. Ebenso waren die Motive der Akteure uneinheitlich. 68 hat nicht nur Leute wie Ulrike Meinhof oder Horst Mahler hervorgebracht, sondern auch Marieluise Beck-Oberdorf, Petra Kelly, Oskar Negt, Claus Offe, J. Fischer, D. C. Bendit, Ulla Schmidt, Krista Sager, Winfried Kretschmann, Reinhard Bütikofer, Ralf Füchs, Jürgen Trittin, Karl Schlögel, Helmut Lethen, Rüdiger Safranski, Jens Scheer, Gert Koenen, Joscha Schmierer, Hans-Christian Ströbele, Fritz Kuhn, Antje Vollmer, Katrin Goering-Eckardt, Renate Künast, Claudia Roth und viele andere mehr. Letztere haben sich als Repräsentanten der Bewegung mit ihren Motiven und politischen Anliegen durchgesetzt. Gleichwohl haben sie ihr Denken und ihre Konzepte, Dank der politischen Debatte und Dank des kritischen Geistes, der sich in offenen Demokratien entfalten kann, in eine liberale kompatible Form gebracht. Sie bestimmen seit einigen Jahren den von Thilo Sarrazin & Co. verhassten Mainstream. Ohne 68 hätte es wahrscheinlich keine Friedens- und keine grün-alternative Bewegung gegeben. Deutschland hätte heute ein anderes politisches Gesicht, d. h. ohne 68 wäre Deutschland weniger demokratisch, liberal und bunt. Was „die 68er“ einte ist das Antiautoritäre, der Drang nach individueller Gestaltung des je eigenen Lebens, aus der der staatliche Vormund sich rauszuhalten hat; heute sagen wir dazu Liberalismus. Ja, die „antiautoritäre Revolte“ begann für viele von uns erst mal mit Kinks, Beatles, Stones, Hendrix, mit Sex, Drugs & Rock ’n’ Roll. 68 steht für die Entdeckung der eigenen Individualität durch die erste Nachkriegsgeneration, steht für den Wunsch nach einem selbstbestimmten autonomen und aufgeklärten Leben in einer freien und offenen Gesellschaft. Da „die 68ger“ die Gesellschaft zu recht als repressive erlebten und diese Erfahrung auch in Verbindung mit dem Nationalsozialismus brachten, hatten viele den Wunsch nach gesellschaftlicher Veränderung. Einige auf dem Weg von Reformen andere auf einem eher revolutionären Weg. Wie Posener richtig bemerkt ist 68 nicht die Ursache der Modernisierung, sondern „ihr Symptom“. Die westdeutsche antiautoritäre Bewegung war Teil einer globalen Freiheitsbewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts, die ihren Ausgang nicht zufällig in den USA nahm. Sie war, marxistisch gesprochen, der sich neu herausbildende Überbau der beginnenden ökonomischen Globalisierung. Von den USA über Frankreich und die Tschechoslowakei bis hin zu Japan demonstrierten junge Menschen vor allem gegen den Vietnamkrieg und die Todesstrafe und für eine neue soziale und gleichberechtigte Gesellschaftsordnung. Ihr Selbstverständnis war emanzipatorisch und größtenteils antiautoritär. Dazu gehörten auch Woodstock, Love & Peace. Was die politischen Gruppen einte war, die autoritären Strukturen aufzubrechen und die Gesellschaft von der Basis aus zu demokratisieren. Ja, die Akteure von 68 waren „verfassungsfeindlich, verbohrt“, auch „verrückt“, aber sie folgten einem humanistischem Impuls. Im Kern war 68 der Beginn und Ausdruck einer linken freiheitlichen Bewegung mit jeder Menge Kinderkrankheiten. Im Geiste fortschrittlich, aber nicht reaktionär. 68 wollte die soziale Spaltung in der Gesellschaft überwinden. 68 steht für Anti-Rassismus, Gleichstellung der Geschlechter und sexuellen Neigungen, für "Nie wieder Krieg" und für "Nie wieder Auschwitz und Faschismus", für eine kooperative auf Frieden ausgerichtete Außenpolitik; 68 steht für Weltoffenheit. Es ist genau dieser freiheitliche, liberale, antiautoritäre und demokratische Impuls, gegen den die Neue Rechte heute überall Sturm läuft. Für Höcke ist es nicht der Islam, es ist die "Dekadenz", d. i. für ihn die Liberalität „dieses Links-Grün versifften Deutschland" (AfD Meuthen), das die Neue Rechte hasst wie der Teufel das Weihwasser.
68 hat wie Karl Marx die richtigen Fragen gestellt: Warum gibt es Armut in einer reichen Welt? Wie muss eine freie Gesellschaft beschaffen sein, in der der Einzelne seine Fähigkeiten optimal entfalten kann, nicht vermarktet wird und dem nicht ein Preis, sondern Würde zukommt? Genaue Antworten konnte Marx nicht geben, ebenso nicht 68. Heute sind wir jedoch ein großes Stück weiter und müssen aufpassen, dass wir die bisherigen Erfolge nicht verspielen. Der Geist von 68 findet seinen Ausdruck auch in Marxens kategorischem Imperativ des Humanismus schlechthin, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ (MEW 1, 385)43. Unter Kommunismus verstand Marx eine Gesellschaft, „worin die freie Entfaltung eines jeden die Bedingung der freien Entfaltung aller“ ist. Für Gert Koenen ist das „keine Utopie, sondern ein einfaches Kriterium einer menschenwürdigen Gesellschaft“ (Koenen). Was gut ist zeigt sich zunächst am guten Willen, der einer Handlung zu Grunde liegt. Diesen kann 68, trotz aller Fehler, für sich beanspruchen. Die 68er-Bewegung wusste: Demokratie funktioniert nicht aus sich heraus, auch nicht, wenn man über die besten Institutionen und rechtlichen Regelungen verfügt. Das Schicksal einer demokratischen Gesellschaftsordnung, die mit Leben erfüllt ist, hängt auch davon ab, in welchem Maße die Menschen in politische Prozesse miteinbezogen werden und soziale Teilhabe gelingt. Ohne 68 ist auch die heutige Zivilgesellschaft kaum vorstellbar. Bürgerinitiativen, Mitbestimmung, Bildungsreform und kritischer Umgang mit Autoritäten sind noch heute sichtbare Erfolge. Wir sollten das Erbe von 68 trotz aller berechtigten Kritik nicht kleinreden, sondern bewahren und gegen die Feinde der offenen menschenrechtlich verfassten Gesellschaft verteidigen!
ja,
die selbst-ermächtigung zum selber-denken,
die skepsis gegen schein-eliten, bewegungs-führer, meinungs-generatoren
kann irre gehen,
ist aber das einzige mittel gegen sklerotische ab-lagerungen.
persönliche irrtümer sind zu erwarten, aber un-umgänglich
und (in besseren zeiten) revidierbar .
such- und denk-bewegungen sind schlag-kräftigen organisationen
vorzuziehen, die sich gegen solche immunisieren.
>>...such- und denk-bewegungen sind schlag-kräftigen organisationen
vorzuziehen...<<
Oder: Sollten Ergebnisse von Such- & Denkbewegungen in schlagkräftige Organisation münden? Die in sich eine Weiterentwicklung zulassen müsste, versteht sich.
na,na, korrekt-zitieren ist was anderes.
und: schlag-kräftige organe,
wie die polizei, die sich das denken im dienst verbittet,
gibts zur genüge.
Man könnte den Titel umformulieren in „Starrsinn und Unform“, oder noch provokanter: „Religion und Uniform“. Aber das wird 68 und den 68-Mutationen nicht gerecht. Selbstverständlich kam ein neues Denken nicht als „Sinn und Form“ fertig auf die Welt. Es war eine nicht mehr zu bevormundende Suchbewegung, die Extreme nicht scheute, die aber durchaus auf der Suche nach dem fehlenden Maß war. Man kann nicht Kinder lieben und ihnen die Kinderkrankheiten verbieten wollen. Die Blumenkinder und die Maoisten waren trotz allem wunderbare Kinder, und sie sind in der Mehrzahl nicht zu ihrem Vorteil erwachsen geworden. 68 war auch ein Versprechen auf Anarchie UND solidarische Wohlordnung. Und es war die dialektische Bewegung einer lebendigen Gesellschaft, ein Leben, das der heutigen wieder einzuhauchen ist. Kein schlechter Anfang, Posener und Heidlberger übereinanderzulegen.
Sieben Jahre lang nur Arbeiterlieder hören zu dürfen, das muss wirklich eine Qual sein – eine wahre Schule des «Totalitarismus». Verständlich, dass da einer schließlich ausbricht – und dabei er auch noch seine dritte Befreiung erlebt. Wie wunderbar!
Leider hat diese Geschichte einen ganz kleinen Haken: Meine einzige bewusste Begegnung mit Alan Posener muss Ende 1973 in einem besetzten Haus in Westberlin gewesen sein – Weihnachten oder Silvester, das weiß ich nicht mehr. Der Anlass unserer Begegnung war eine Party, mit reichlich Rockmusik.
Doch seien wir nicht kleinlich: Posener hat Gewichtigeres gegen die K-Gruppenkultur der Siebzigerjahre einzuwenden als den Verzicht auf musikalische Vielfalt. (Komisch ist bloß meine Erinnerung an studentische Gelage in der Universität Tübingen, wo sich die Genossinnen und Genossen des Kommunistischen Studentenverbandes (KSV) als besonders festfreudig erwiesen. Übrigens: Ich war auch einer von ihnen.)
Alan Posener scheint sich intensiv mit Fragen der Religion befasst zu haben. So könnte das, was er vorträgt, auch als eine Erlösungsgeschichte verstanden werden: Als Junge litt er unter den autoritären Verhältnissen und fand eine erste Befreiung im antiautoritären Geist seiner Zeit. Doch dieser erwies sich sehr bald als eine dämonische Kraft, weil er dem Prozess der Befreiung keine positiven Ziele bot. Die schienen ihm die Welt der K-Gruppen zu vermitteln, weil sie dem Leben wieder Sinn und Form zu geben versprachen. Doch auch diese zweite Befreiung erwies sich als trügerisch: Vermeintliche Freiheit war nur um den Preis eines «sacrificium intellectus» zu haben.
Hier sind wir im Zentrum seiner Argumentation angekommen: Die kommunistische Organisation ist ein Götze, der Opfer verlangt. K-Gruppen müssen als Zwangszusammenhänge verstanden werden, die – wenn sie an die Macht gekommen wären – totalitäre Züge angenommen hätten. Ja, Alan Posener hat sich für den KSV aufgeopfert und einen Burnout erlebt. Das darf nicht gering geachtet werden. Doch die entscheidende Frage bleibt: Wurde er dazu gezwungen oder war dies ein Akt der Freiwilligkeit? In «Partei kaputt. Das Scheitern der KPD und die Krise der Linken» (Berlin 1981), einem heute nicht mehr gelesenen Buch, weist der Historiker Karl Schlögel darauf hin: «Man war ja selbst Akteur und nicht Opfer.» Und wenn es um Opferbereitschaft ging, dann stellte dies eine wechselseitige Forderung an Funktionäre bzw. Funktionärinnen wie an einfache Mitglieder dar. So habe ich das auch erlebt: Frühmorgens um drei Uhr in Tübingen aufstehen, um rechtzeitig zu Schichtbeginn beim Daimler in Stuttgart zu sein – das war nicht nur Sache des revolutionären Fußvolks.
In ihrer Flugschrift «alle zusammen. jede für sich. die demokratie der plätze» (Hamburg 2012) haben die Autoren Michael Jäger und Thomas Seibert darauf hingewiesen, dass die K-Gruppen dem Gedanken der «Gewinnung eines freien Selbst» insoweit verbunden gewesen seien, «als sie diese Freiheit gerade in der freien Verpflichtung des ‹Parteikaders› aufs weltrevolutionäre Klassen-Gemeinsame suchten» – ein Versuch allerdings zur «Unzeit». Als historisch neu halten die beiden Autoren fest, «dass jene Parteikerne die Kraft fanden, sich selbst zu stoppen, sich selbst zu widersprechen. Das war bewundernswert und bleibt eigens zu erinnern.»
Von der Anerkennung solcher Lernfähigkeit ist bei Posener nichts zu finden. Für ihn war die K-Gruppenwelt bloß «verbohrt und verrückt» – und natürlich «verfassungsfeindlich». Solche «Feinde» gab es in den Siebzigerjahren allerdings viele. Als Mitarbeiter der «Welt»-Gruppe muss sich Posener keine Gedanken mehr über die Überwindung des Kapitalismus und eine andere Welt machen, denn er lebt vermutlich bereits in der besten aller Möglichen. Wer dies nicht so sieht (und gute Gründe dafür hat), wird sich wohl irgendwann einmal Gedanken darüber machen müssen, wie es um diese Verfassung steht. Kurz gesagt: Das Grundgesetz kann wohl kaum Ausdruck des Endes der Geschichte sein!
Bei aller Kritik an der Außerparlamentarischen Opposition (APO) der Sechzigerjahre findet Alan Posener doch noch einen positiven Punkt: ihren «Impetus, die Teilung in Ost und West zu überwinden durch einen ‹Sozialismus mit menschlichem Antlitz›», wie die Formel des Prager Frühlings lautete, die auch von den revolutionären Student_innen und Arbeiter_innen im Mai `68 in Paris aufgenommen wurde. Dieses Erbe der APO fand gerade in der maoistischen KPD einen Resonanzraum. Insofern war es wohl kaum Zufall, dass Posener genau dort landete – und nicht bei der DKP, die den Impuls des tschechoslowakischen Reformkommunismus als «revanchistisch» abtat und den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 begrüßte.
Wenn es um die Erbschaft der Achtundsechziger-Bewegung geht, dann sollte auch daran erinnert werden.
Worüber noch wenig geschrieben wurde war die Genese des Linksterrorismus aus den Psychiatriebewegungen und die größte Schnapsidee aus der Kommune eines Bombenanschlags auf die jüdische Gemeinde.
Was mich richtig an 68 stört ist, dass wir nie die Perspektive der anderen Seite erhalten. Verklärung als linksliberales Gedöns ist sicher falsch.
<<Ja, die Akteure von 68 waren „verfassungsfeindlich, verbohrt“, auch „verrückt“, aber sie folgten einem humanistischem Impuls.>>
Na, das habe ich damals aber ganz anders erlebt. Die Große Koalition mit Kiesinger und Brandt an der Spitze hatte gerade ihre 2/3 Mehrheit ausgenutzt und die Notstandsgesetze in das Grundgesetz hineingeschrieben. Lediglich der FDP war es zu verdanken, dass in letzter Minute noch in den Art 20GG der Zusatz eingefügt wurde, dass jeder Deutscher Widerstand leisten dürfe, falls jemand die verfassungsmäßige Ordnung beseitige.
Als ich im Herbst 1968 in München mein Studium aufnahm, war der Kampf gegen die Notstandsgesetze das beherrschende politische Thema und für viele, vor allem gut bürgerliche, Studenten der Anlass bei den verschiedenen linken Bewegungen mitzumachen.
Für mich war die Widerstandsmöglichkeit nach Art 20 GG der Ansporn, in das Technische Hilfswerk einzutreten und dort zu üben, wie man alte Industrieschornsteine mittels Plastiksprengstoff und Millisekundenzündern in sich zusammenkrachen läßt. Man konnte ja nicht wissen, wann wir diese Fähigkeit mal anwenden müssten. Die Lektüre von George Orwells 1984 war gerade drei Jahre her. Und für mich war klar: Die Groko steuerte auf eine Notstandsregierung mit weitgehender Suspendierung der Verfassungsrechte hin. Es kam dann anders und ich trat aus dem THW wieder aus.