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Facebook Ein junger Daten-Nerd war dafür verantwortlich, dass die Profile von Millionen Nutzern missbraucht wurden. Nun packt er aus
Ausgabe 12/2018
Christopher Wylie hat Facebook geknackt. Dann bekam er Angst
Christopher Wylie hat Facebook geknackt. Dann bekam er Angst

Montage: der Freitag; Fotos: Antonio Olmos/The Guardian, Getty Images

Als ich Christopher Wylie zum ersten Mal traf, hatte er noch keine pink gefärbten Haare. Das kam erst später. Genau wie sein Versuch, die Zeit zurückzudrehen und die Geister, die er gerufen hatte, wieder loszuwerden. Bevor ich ihn persönlich kennenlernte, telefonierten wir, täglich, stundenlang. Am Telefon klang er intelligent, witzig und scharfzüngig, wissensdurstig und überzeugend. Ein brillanter Geschichtenerzähler. Ein Politikaktivist. Ein Daten-Nerd.

Zwei Monate später, als er aus Kanada nach London kam, war er all diese Dinge auf einmal, in Fleisch und Blut. Und zugleich unglaublich jung: damals 27 (mittlerweile ist er 28), ein Umstand, der im krassen Widerspruch zu dem zu stehen scheint, was er getan hat. Denn es ist gut möglich, dass er in den politischen Umwälzungen des Jahres 2016 eine zentrale, entscheidende Rolle gespielt hat.

Als er 24 war, entwickelte Wylie eine Idee, die zur Gründung von Cambridge Analytica führte, einer Datenanalysefirma, die beim Brexit-Referendum eine wichtige Rolle für das „Leave“-Lager spielte und schließlich eine Schlüsselstellung in Donald Trumps digitaler Wahlkampfstrategie einnahm. Oder, wie Wylie selbst es beschreibt: Er war der schwule kanadische Veganer, der „Steve Bannons psychologisches Kriegsführungs-und-Mindfuck-Werkzeug“ erschaffen hat.

Im Jahr 2014 war Steve Bannon – damals Chef des „Alt-Right“-Nachrichtennetzwerks Breitbart – Wylies Boss. Und Robert Mercer, der US-Hedgefonds-Milliardär und Geldgeber der Republikaner, war Cambridge Analyticas Investor. Beide hatten sich der Idee verschrieben, Big Data und soziale Medien mit der „informationellen Kriegsführung“ zusammenzubringen – und das Ergebnis dann gegen die US-Wähler zu richten. Es war Wylie, der auf diese Idee gekommen war und sie in die Tat umsetzte.

Im Jahr 2017 bekam Wylie es mit der Angst zu tun. Steve Bannon war Trumps Chefstratege, die Muttergesellschaft von Cambridge Analytica, SCL, hatte Aufträge vom US-Außenministerium bekommen und verhandelte mit dem Pentagon. „Die Firma“, sagte er, „hat psychologische Profile von 230 Millionen Amerikanern erstellt. Und jetzt wollen sie für das Pentagon arbeiten? Das ist wie Nixon auf Anabolika.“

Wylie verdanken wir einen einzigartigen Einblick in die Ereignisse des Jahres 2016. Wie Facebook zweckentfremdet und zu einem Kriegsschauplatz gemacht wurde: wie es zur Abschussrampe für einen unerhörten Angriff auf die US-amerikanische Demokratie wurde.

Das Parlament wird belogen

Wylie hatte, damals war er 24 und promovierte über die Prognose von Modetrends, einen Ansatz entwickelt, der darauf beruhte, die Facebook-Profile von Millionen von Menschen in den USA zu sammeln und ihre privaten und persönlichen Informationen dafür zu nutzen, ausgeklügelte psychologische und politische Profile zu erstellen. Und sie dann gezielt mit auf sie abgestimmter politischer Wahlwerbung anzusprechen.

„Wir haben Facebook geknackt“, sagt er. Im Auftrag seines neuen Chefs, Steve Bannon. „Wäre es korrekt, zu sagen, dass Sie Facebook ‚gehackt‘ haben?“, frage ich ihn eines Abends. Er zögert. „Ich würde sagen, dass ich davon ausgegangen bin, dass das völlig legal und in Ordnung war.“

Vor einem Monat sagte Simon Milner, Facebooks „Director of Policy“ in Großbritannien, vor britischen Abgeordneten in einem Untersuchungsausschuss zu Fake News aus, dass Cambridge Analytica keine Facebook-Daten habe. Dem offiziellen Transkript zufolge fragte ihn Christian Matheson, Abgeordneter für Chester: „Haben Sie jemals Nutzerdaten an Cambridge Analytica oder eines seiner Subunternehmen weitergegeben?“ Simon Milner: „Nein.“ Matheson: „Aber Letztere besitzen eine große Menge an Facebook-Nutzerdaten, oder?“ Milner: „Nein. Es kann sein, dass sie viele Daten haben, aber das sind keine Facebook-Nutzerdaten. Vielleicht sind es Daten über Personen, die auf Facebook sind, die sie selbst gesammelt haben, aber es sind keine Daten, die wir zur Verfügung gestellt haben.“

Briefe und Quittungen belegen, wie 50 Millionen Facebook-Profile erfasst wurden

Foto: The Washington Post/Getty Images

Zwei Wochen später, am 27. Februar, fragte Rebecca Pow, Abgeordnete für Taunton Deane, im Rahmen der gleichen parlamentarischen Untersuchungskommission, den Vorstandsvorsitzenden von Cambridge Analytica, Alexander Nix: „Stammen die Daten von Facebook?“ Nix antwortete: „Wir arbeiten nicht mit Facebook-Daten und besitzen keine Facebook-Daten.“

Während alldem wussten Wylie, ich, eine Handvoll Redakteure und eine kleine internationale Gruppe von Akademikern und Forschern, dass dies zumindest für 2014 nicht stimmte. Und Wylie konnte es beweisen. Bei unserem ersten Telefongespräch sagte er mir, er habe Quittungen, Rechnungen, E-Mails, Anwaltsbriefe – kurz: Dokumente, die zeigen, wie zwischen Juni und August 2014 die Profile von mehr als 50 Millionen Facebook-Nutzern erfasst wurden. Und, vielleicht am kompromittierendsten, er besaß einen Brief von Facebooks eigenen Anwälten, der bestätigte, dass Cambridge Analytica die Daten unrechtmäßig erworben hatte.

Der Gang an die Öffentlichkeit birgt für Wylie enorme Risiken. Er bricht eine Verschwiegenheitsvereinbarung und nimmt in Kauf, möglicherweise verklagt zu werden. Das letzte Jahr, bis Wylie endlich so weit war, dass es für ihn möglich ist, an die Öffentlichkeit zu gehen, war wie eine Achterbahnfahrt. Es war ein Jahr, in dem Cambridge Analytica zum Gegenstand von Ermittlungen auf beiden Seiten des Atlantiks geworden ist – jenen von Robert Mueller in den USA und zwei verschiedenen Untersuchungen der Wahlkommission und der Datenschutzbehörde in Großbritannien, beide ausgelöst durch einen ersten Artikel des Observer zu dem Thema im Februar 2017.

Es war auch ein Jahr, in dem Wylie alles versucht hat, um Dinge wieder rückgängig zu machen, die er selbst in Gang gesetzt hat. Anfang März legte er der britischen Datenschutzbehörde und der Cyber-Einheit der britischen National Crime Agency sein Beweismaterial vor. Er ist jetzt in der Lage, sich offiziell und mit seinem Namen öffentlich zu äußern. Er ist der Daten-Nerd, der aus der Kälte kam.

Um Wylies Geschichte zu erzählen, könnte man allerhand ziemlich disparate Ausgangspunkte wählen. Einer wäre 2012, da war er 21 Jahre alt und arbeitete für die Liberaldemokraten in Großbritannien, die damals Juniorpartner in der Regierungskoalition waren. Wie er dazu kam, ist, wie seine Karriere und die meisten Aspekte seines Lebens überhaupt, außergewöhnlich, absurd, fast unglaubwürdig. Wylie wuchs in British Columbia in Kanada auf, als Teenager wurden bei ihm ADHS und Legasthenie diagnostiziert. Mit 16 ging er ohne Abschluss von der Schule, mit 17 arbeitete er im Büro des kanadischen Oppositionsführers. Mit 18 lernte er alles über Daten in der Politik von Obamas Nationalem Direktor für Zielgruppenansprache, was er dann in Kanada für die Liberale Partei einführte. Mit 19 brachte er sich selbst das Programmieren bei, und 2010, im Alter von 20 Jahren, kam er nach London, um an der London School of Economics Jura zu studieren.

Etwa zur gleichen Zeit experimentierten zwei Psychologen, Michal Kosinski und David Stillwell, am Institut für Psychometrie der Universität Cambridge mit einer Methode, um Persönlichkeitsmerkmale zu erforschen – indem sie sie quantifizierten. Stillwell hatte bereits 2007 als Student verschiedene Apps für Facebook entwickelt, von denen eine, ein Persönlichkeitsquiz namens myPersonality, viral gegangen war. Die Nutzer wurden anhand von „fünf großen“ Persönlichkeitsmerkmalen – Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus – bewertet, und im Gegenzug gewährten 40 Prozent den Machern Zugang zu ihren Facebook-Profilen. Plötzlich gab es eine Möglichkeit, Persönlichkeitsmerkmale der Bevölkerung zu messen und diese Werte mit den Facebook-Likes von Millionen von Menschen abzugleichen. Kosinskis und Stillwells Forschung war originell, bahnbrechend, und die Möglichkeiten, die sie eröffnete, lagen auf der Hand.

„Die Sicherheitsbehörden traten mehrmals an sie heran“, sagt ein Mitglied des Instituts. „Es gab eine App, die You Are What You Like hieß und den Geheimdiensten vorgestellt wurde. Sie zeigte seltsame Muster auf, etwa dass Leute, die „Ich hasse Israel“ auf Facebook liken, Nike-Schuhe und KitKat-Riegel mögen. Es gibt Agenturen, die Forschung im Auftrag der Geheimdienste finanzieren. Und sie stürzten sich auf diese Forschungsarbeiten. Diese trug den Spitznamen ‚Operation KitKat‘.“ Das Verteidigungs- und das Militär-Establishment waren die Ersten, die das Potenzial dieser Forschung erkannten. Boeing, ein wichtiges Unternehmen der US-Rüstungsindustrie, finanzierte Kosinskis Doktorarbeit, und die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA) der US-Regierung wird in mindestens zwei wissenschaftlichen Arbeiten zitiert, die Kosinskis Arbeit unterstützen.

Aufträge von Ministerien

Als 2013 das erste wichtige Paper veröffentlicht wurde, erkannten auch andere dieses Potenzial, einschließlich Wylie. Es war die Zeit, als er an seiner Doktorarbeit schrieb und nebenbei für die Liberaldemokraten eine Präsentation erarbeitete, mit der er zeigen wollte, wie Persönlichkeitsmerkmale politisches Verhalten bestimmen. Er sah darin einen Weg für die Partei, mögliche neue Wähler zu identifizieren. Das einzige Problem war: Die Partei hatte kein Interesse.

Über eine Parteibekanntschaft geriet Wylie jedoch in Kontakt mit einer Firma namens SCL Group, deren Tochtergesellschaft SCL Elections später Cambridge Analytica gründete (eine Kooperation zwischen SCL Elections und Robert Mercer, finanziert von Letzterem). Alexander Nix, damals CEO von SCL Elections, machte Wylie ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Er soll gesagt haben: „Wir geben Ihnen völlige Freiheit. Experimentieren Sie. Kommen Sie und probieren Sie all Ihre verrückten Ideen aus.“

Der Job war der eines Forschungsleiters innerhalb der SCL Group. Die SCL ist ein privater Auftragnehmer, der sowohl auf Verteidigung als auch auf Wahlen spezialisiert ist. Der Verteidigungsbereich war unter anderem Auftragnehmer des britischen Verteidigungsministeriums und des US-Verteidigungsministeriums. Seine Expertise lag bei „psychologischen Operationen“ – Psyops genannt –, die die Einstellung der Leute nicht durch Überzeugungskraft, sondern durch „informationelle Dominanz“ – mittels Gerüchten, Fehlinformationen, Fake News – verändern sollten. SCL Elections hatte ähnliche Mittel bei rund 200 Wahlen auf der ganzen Welt eingesetzt, vor allem in wenig entwickelten Demokratien, die, wie Wylie erkannte, nicht dafür gewappnet waren, sich zu verteidigen.

Als Wylie in den SCL-Büros in Mayfair auftauchte, hatte er keine Ahnung, dass er sich in ein Geflecht aus Verteidigungs- und Geheimdienstprojekten, privaten Subunternehmern und hochmodernen Cyberwaffen begab. Wenige Monate später, im Herbst 2013, traf Wylie Steve Bannon. Zu dieser Zeit war Bannon Chefredakteur von Breitbart, das er nach England exportiert hatte, um seinen Freund Nigel Farage bei dessen Brexit-Feldzug zu unterstützen.

Als „smart“ habe er Bannon empfunden, sagt Wylie. „Er hat ein echtes Interesse an Ideen. Er ist der einzige heterosexuelle Mann, mit dem ich jemals über intersektionale feministische Theorie gesprochen habe. Er erkannte sofort ihre Relevanz für die Überforderung, die konservative, junge weiße Männer empfinden.“

Als Wylie auf Bannon traf, war das der Moment, in dem Benzin auf eine flackernde Flamme gegossen wurde.

Politik sei wie Mode, erklärte er Bannon. „Der hat das sofort verstanden. Er glaubt an die Andrew-Breitbart-Doktrin, dass Politik der Kultur nachgelagert ist. Um die Politik zu ändern, muss man also die Kultur verändern. Und Modetrends sind dafür ein nützlicher Hebel. Trump ist im Grunde wie ein Paar Uggs oder Crocs. Wie schaffst du es davon, dass die Leute denken: Uff. Wie hässlich, zu dem Moment zu kommen, wo alle sie tragen? Das war der Dreh, nach dem er suchte.“

Aber Wylie sprach nicht nur von Mode. Er war kurz zuvor durch SCL mit einer neuen Disziplin in Kontakt geraten: „informationelle Kriegsführung“, die in der US-Militärdoktrin des „fünfdimensionalen Kampfraums“ neben Land, See, Luft und Weltraum rangiert. Es war Bannon, der das Konzept des Informationskriegs aufnahm und den Mercers vorstellte: Robert Mercer – Co-CEO des Hedgefonds Renaissance Technologies, der seine Milliarden für eine rechte Agenda einsetzte, für republikanische Zwecke spendete und ihre Kandidaten unterstützte – und dessen Tochter Rebekah. Nix und Wylie flogen nach New York, um beide in Rebekahs Appartement in Manhattan zu treffen.

Die Enthüllungen und ihre Folgen

Mit Bestürzung reagieren Politiker allerorts auf die Enthüllungen Christopher Wylies. Vertreter der Republikanischen und der Demokratischen Partei in den USA forderten eine Erklärung von Facebook-Chef Mark Zuckerberg. Außerdem solle der Justizausschuss die Geschäftsführer aller großen Internet-Konzerne vorladen, um sie über den Umgang mit Nutzerdaten zu befragen. In Europa kündigte der Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani, eine umfassende Untersuchung an. Věra Jourová, EU-Justizkommissarin, sagte, die EU werde „alle möglichen rechtlichen Maßnahmen ergreifen“. In Großbritannien will sich die Datenschutzbeauftragte Elizabeth Denham gerichtlich Zugang zu den Servern von Cambridge Analytica (CA)verschaffen.

Facebook sieht sich selbst als Opfer: „Das gesamte Unternehmen ist entsetzt darüber, dass wir hintergangen wurden“, schreibt der Konzern. Während sich Mark Zuckerberg selbst in Schweigen hüllt, erklärte das Unternehmen: 2015 sei man von „einem Professor der Univer-sität Cambridge“ belogen worden. Dieser habe über einen Psychologietest Daten gesammelt. Der Darstellung, diese seien geklaut worden, widerspricht der Konzern. Die Nutzer hätten der Übermittlung ihrer Daten zugestimmt. Allein am Montag brach Facebooks Aktienkurs um sieben Prozent ein. Am Dienstag wurde bekannt, dass Datenforensiker von Facebook bereits bei CA waren, um den Verbleib des Datenberges zu klären. Die britische Datenschutzaufsicht forderte sie auf, die Arbeit einzustellen, da zu befürchten sei, dass Beweise zum Verschwinden gebracht werden könnten. Der Ex-Facebook-Manager Sandy Parakilas erklärte, Cambridge Analytica sei nur die Spitze des Eisbergs. Hunderte Millionen von Nutzern könnten betroffen sein. Die US-Verbraucherschutzbehörde FTC leitete laut Washington Post eine Untersuchung gegen Facebook ein. Erste Aktionäre klagen vor Gericht – die Konzernführung habe sie über die Fähigkeiten in die Irre geführt habe, Nutzerdaten zu schützen.

CA-Chef Alexander Nix hatte zu alldem einem Undercover-Reporter des britische Senders Channel 4 gegenüber geprahlt, dass man auch Erpressungen in Wahlkämpfen nutzen könne. Nix wurde am Dienstag suspendiert. Leander F. Badura

„Sie war begeistert von mir. Sie sagte: ‚Oh, wir brauchen mehr von deiner Sorte auf unserer Seite!‘ Schwule meinte sie damit. Sie liebte Schwule. Gleiches gilt für Steve. Er sah uns als early adopters. Er dachte, wenn sie die Schwulen an Bord bringen, ziehen alle anderen nach. Deshalb setzte er auch so auf Milo (Yiannopoulos).“

Robert Mercer war ein Pionier der künstlichen Intelligenz und maschinellen Übersetzung und hatte bei der Erfindung des algorithmischen Handels geholfen, der Hedgefonds-Manager durch Computerprogramme ersetzte. Mercer hörte sich Wylies Vorschläge an. Es ging um eine neue Art von politischem Nachrichten-Targeting, die auf einer bahnbrechenden Forschungsarbeit des Instituts für Psychometrie der Universität Cambridge von 2014 basierte, die den Titel trug: „Computer-basierte Persönlichkeitsurteile sind genauer als von Menschen erstellte“.

Der Dümmste im Raum

„In der Politik ist der Mann mit dem Geld normalerweise die dümmste Person im Raum. Bei Mercer war das genau umgekehrt“, sagt Wylie. „Er sagte sehr wenig, aber er hörte wirklich zu. Er wollte die wissenschaftlichen Aspekte verstehen. Und er wollte Beweise, dass es funktionierte.“ Dafür benötigte Wylie Daten. Wie Cambridge Analytica die Daten erlangte, war Gegenstand interner Überprüfungen an der Universität Cambridge, vieler Nachrichtenartikel und unzähliger Spekulationen und Gerüchte.

Als Nix vergangenen Monat vom britischen Parlament befragt wurde, fragte ihn der Abgeordnete Damian Collins: „Stammen Ihre Daten von Global Science Research?“ Nix: „GSR?“ Collins: „Ja.“ Nix: „Es gab eine Beziehung zu GSR. Sie haben 2014 etwas für uns recherchiert. Diese Forschung erwies sich als fruchtlos, und die Antwort lautet deshalb: Nein.“ Collins: „Sie haben Ihnen keine Daten oder Informationen geliefert?“ Nix: „Nein.“ Collins: „Ihre Datensätze basieren nicht auf Informationen, die Sie von ihnen erhalten haben?“ Nix: „Nein.“

Alexander Nix wurde im Zuge der Enthüllungen als Chef von Cambridge Analytica suspendiert.

Foto: Joshua Bright/The Washington Post/Getty Images

Das Problem mit Nix’ Antwort ist, dass Wylie eine Kopie eines unterzeichneten Vertrags besitzt, datiert auf den 4. Juni 2014, die bestätigt, dass SCL, die Muttergesellschaft von Cambridge Analytica, eine kommerzielle Vereinbarung mit einem Unternehmen namens Global Science Research (GSR) einging, dessen Eigentümer der Cambridge-Dozent Aleksandr Kogan ist. Grundlage ist das Sammeln und Verarbeiten von Facebook-Daten, damit diese mit Persönlichkeitsmerkmalen und Wählerverzeichnissen abgeglichen werden können. Wiley hat Quittungen, die zeigen, dass Cambridge Analytica sieben Millionen Dollar ausgegeben hat, um diese Daten zu sammeln, ungefähr eine Million ging an GSR. Er hat die Bankunterlagen und Überweisungen.

E-Mails zeigen, dass Wylie zuerst mit Michal Kosinski, einem der Autoren der ursprünglichen MyPersonality-Forschungsarbeit sprach, um die MyPersonality-Datenbank verwenden zu können. Aber als die Verhandlungen scheiterten, schlug ein anderer Psychologe, Aleksandr Kogan, eine Lösung vor, die viele seiner Kollegen als unethisch ansahen. Er bot an, die Forschungen von Kosinski und Stilwell zu wiederholen und die beiden außen vor zu lassen. Für Wylie schien das die perfekte Lösung. „Kosinski verlangte 500.000 Dollar für die Rechte, aber Kogan sagte, er könne seine Forschung replizieren und einfach seine eigenen Daten sammeln.“ (Kosinski sagt, die Gebühr sollte weitere Forschung finanzieren.)

Dank Robert Mercers Millionen war Kogan in der Lage, das Problem des Erwerbs von persönlichen Daten mit Geld zu lösen: Er schaltete Werbung und suchte Leute, die bereit waren, gegen Entlohnung an einem Persönlichkeitsquiz teilzunehmen. Die App trug den Namen „thisismydigitallife“und ermöglichte es Kogan am Ende, auf die Facebook-Profile der Teilnehmer zuzugreifen. Und nicht nur auf ihre, sondern auch die ihrer Freunde. Im Durchschnitt hat jeder dieser Seeder – die Leute, die den Persönlichkeitstest machten, insgesamt etwa 320.000 – unwissentlich Zugang zu den Profilen von mindestens 160 anderen Personen verschafft, von denen keine etwas wusste oder auch nur ahnen konnte.

Was die E-Mail-Korrespondenz zwischen Mitarbeitern von Cambridge Analytica und Kogan zeigt, ist, dass Kogan innerhalb weniger Wochen Millionen von Profilen gesammelt hatte. Aber weder Wylie noch sonst irgendjemand bei Cambridge Analytica hatte überprüft, ob das legal war. Genehmigt war es in jedem Fall nicht. Kogan hatte die Erlaubnis, Facebook-Daten zu sammeln, aber nur für akademische Zwecke. Darüber hinaus ist es nach den britischen Datenschutzgesetzen illegal, dass personenbezogene Daten ohne Zustimmung an Dritte verkauft werden.

„Facebook konnte sehen, was vor sich ging“, sagt Wylie. „Ihre Sicherheitsprotokolle wurden aktiviert, weil Kogans Apps diese enorme Menge an Daten abriefen. Aber Kogan erklärte ihnen offenbar, es sei für akademische Zwecke. Da sagten sie: „Na gut.“ Kogan beharrt darauf, dass alles, was er getan hat, legal gewesen sei. Es habe eine „enge Zusammenarbeit“ mit Facebook gegeben, und das Unternehmen habe ihm die Erlaubnis für seine Apps erteilt.

Cambridge Analytica jedenfalls hatte die Daten, die es wollte. Sie waren die Grundlage für alles, was das Unternehmen als Nächstes tat – dafür, wie es psychologische Einsichten aus den Seedern extrahierte und dann einen Algorithmus für Millionen weitere Profile erstellte.

Zahllose Kopien existieren

Im Dezember 2015 veröffentlichte Harry Davies im Guardian den ersten Artikel darüber, dass Cambridge Analytica Facebook-Daten übernahm und nutzte, um Ted Cruz dabei zu unterstützen, sich als Kandidat der US-Republikaner durchzusetzen. Aber erst viele Monate später wurde Facebook aktiv. Und dann taten sie nichts weiter, als einen Brief zu schreiben. Im August 2016, kurz vor der US-Wahl und zwei Jahre nach der Datenverletzung, schrieben die Anwälte von Facebook an Wylie, der Cambridge Analytica 2014 verlassen hatte. Sie teilten ihm mit, die Daten seien illegal erworben worden und „GSR nicht berechtigt gewesen, sie weiterzugeben oder zu verkaufen“. Sie sagten, sie müssten sofort gelöscht werden. „Das hatte ich bereits getan. Aber ich musste einfach nur ein Kästchen ankreuzen, unterschreiben und das Papier zurückschicken. Das war alles“, sagt Wylie. „Facebook hat keinerlei Anstrengungen unternommen, die Daten zurückzubekommen.“ Es existierten zahllose Kopien, die in unverschlüsselten Dateien per E-Mail verschickt worden waren.

Cambridge Analytica weist alle Vorwürfe des Observer zurück. Russland, Facebook, Trump, Mercer, Bannon, Brexit – jede dieser Spuren führt zu Cambridge Analytica. Aber in den letzten Wochen scheint das Verständnis für Facebooks Rolle gewachsen zu sein. Die Anklageschriften von US-Sonderermittler Robert Mueller taten ein Übriges. Der in der Schweiz ansässige Datenexperte und Wissenschaftler Paul-Olivier Dehaye hat einige der ersten Forschungen zu Cambridge Analyticas Vorgehen veröffentlicht. Seiner Ansicht nach wird es immer offensichtlicher, dass Facebook „auf Missbrauch ausgelegt ist“.

„Facebook hat das wieder und wieder geleugnet“, sagt Dehaye, als ihm die Beweise des Observer vorgelegt werden. „Es hat Parlamentsabgeordnete und Kongress-Ermittler in die Irre geführt und hat seine Pflicht, die Gesetze einzuhalten, nicht erfüllt. Es hat eine gesetzliche Verpflichtung, Regulierungsbehörden und Einzelpersonen über diesen Datenschutzverstoß zu informieren. Aber das hat Facebook nicht getan. Es ist nie offen und transparent gewesen.“

Facebook streitet ab, dass der Datentransfer ein Verstoß ist. Zudem sagte ein Sprecher: „Der Schutz der persönlichen Daten steht im Mittelpunkt unseres Handelns, und wir fordern das Gleiche von den Nutzern, die Apps auf Facebook betreiben. Wenn diese Berichte wahr sind, ist das ein ernsthafter Missbrauch unserer Regeln. Sowohl Aleksandr Kogan als auch die SCL Group und Cambridge Analytica haben uns bestätigt, dass sie die fraglichen Daten vernichtet haben.“

Ob Cambridge Analytica im Auftrag fremder Regierungen auch Wahlen im Ausland unterminieren würde? Eines Abends stelle ich Wiley diese Frage. Seine Antwort ist: „Ja.“ NATO- oder Nicht-NATO-Mitglieder? „Egal. Ich meine – das sind Söldner. Sie werden praktisch für jeden arbeiten, der zahlt.“

Wylies Enthüllungen zeigen, wie problematisch Outsourcing werden kann – wenn es um Cyberwaffen geht, die global eingesetzt werden. Mittendrin stehen wir, die Öffentlichkeit, mit unseren intimen Familienbeziehungen, unseren „Likes“, unseren persönlichen Datenkrümeln, die in ein schwarzes Loch gesaugt werden, das sich ausweitet und wächst, und jetzt einem Milliardär mit einer politischen Agenda gehören. Sosehr Wylie sich auch bemühen mag, die Uhr lässt sich nicht zurückdrehen.

Carole Cadwalladr ist Redakteurin des Observer. Christopher Wiley war seit dem Frühjahr 2017 ihre Quelle

Übersetzung der gekürzten Fassung: Pepe Egger, Christine Käppeler, Carola Torti

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