Stau

A–Z Staut sich innere Erregung zu lange auf, bricht sie sich irgendwann Bahn – oft beim „Fahr’n, Fahr’n, Fahr’n auf der Autobahn“ (Kraftwerk)
Ausgabe 15/2017

A

Autobahn Wir fahr’n fahr’n fahr’n auf der Autobahn. Vor uns liegt ein weites Tal. Die Sonne scheint mit Glitzerstrahl. Die Fahrbahn ist ein graues Band. Weiße Streifen, grüner Rand. Jetzt schalten wir das Radio an. Aus dem Lautsprecher klingt es dann: Wir fahr’n auf der Autobahn …Autobahn ist sicher das Markanteste (Superlative) aller Stücke von Kraftwerk. Das 1974 veröffentlichte Titelstück des gleichnamigen vierten Albums der Düsseldorfer surrt mehr als zwanzig Minuten stoisch vor sich hin: ein kühles, elegantes, repetitives Stück Popmusik, mit dem Kraftwerk die deutsche Techno-Moderne erfand und die eigene Krautrock-Vergangenheit ganz hinter sich ließ.

Deutsche Autobahnen – vor Kraftwerk musste man da immer an Adolf Hitler denken. Jetzt war alles anders. Neu. Herrlich monoton. Technisch. Utopisch. Sind das Menschen, die hier musizieren? Oder sind es Roboter, die ihren Dienst tun? Nein, es sind Kraftwerk, die Maschinenmenschen aus Düsseldorf. Marc Peschke

F

Fahrschule Die Straße ist gepflastert mit populären Irrtümern. Der Vorrang von querenden Fußgängern vor abbiegenden Fahrzeugen zum Beispiel ist vielen Pkw-Lenkern unbekannt. Auch über den Stau irren die Geister. So lohnt ein Verlassen der Autobahn allenfalls bei einer Vollsperrung. Mit ständigen Spurwechseln ist man nicht schneller unterwegs. Für die Rettungsgasse gilt seit 2017 neu: Auf vierspurigen Autobahnen lenken nur die Fahrer auf der linken Spur ihre Wagen nach links, alle anderen nach rechts.

Schon bei stockendem Verkehr soll die Rettungsgasse gebildet werden. Solidarisches Verhalten überfordert viele Egos (Polt, Gerhard): Nach einem Unfall auf der A5 im März hat die Feuerwehr 30 Blockierer angezeigt: Sie musste sich zu Fuß zu einem Schwerverletzten durchkämpfen – und wurde unterwegs von Autofahrern angepöbelt. Tobias Prüwer

G

Gefühl Schon 1990 legte Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz mit dem Bestseller Der Gefühlsstau ein Psychogramm der DDR vor. Er beschrieb den „real existierenden Sozialismus“ als repressives System mit verheerenden Folgen für die Psyche der Bevölkerung: „Die Gefahr liegt im nicht entladenen Gefühlsstau. Wenn wir jetzt nur äußere Entwicklungen anstreben und unsere innere Situation übersehen, müssen wir weiter kompensierend reagieren. Eine „psychische Revolution“ könne die Entfremdung (Autobahn) des Einzelnen mindern und die unmittelbare Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Nähe, Liebe und freiem Gefühlsausdruck ermöglichen.

Noch 2010 analysierte Maaz in der Neuauflage, dass die Auswirkungen der kapitalistisch und sozialistisch geprägten Lebensformen nie wirklich zum Thema der Wiedervereinigung gemacht wurden. In Das falsche Leben widmet sich Maaz aktuell Phänomenen wie Pegida und AfD, schreibt vom „Normopath“, der angepasst in einer kranken Gesellschaft lebt – bis er die Gelegenheit bekommt, sich an noch Schwächeren oder am System abzureagieren. Sarah Alberti

I

Investition Deutschland steckt alles in allem eher wenig Geld in seine Bildungs- und Kultureinrichtungen und Straßen. Die Folge: ein Investitionsstau, angesichts dessen sich niemand über das reale Pendant wundern sollte.

Jüngst gab der ADAC bekannt, dass Staus, Staustunden und Staukilometer 2016 im Vergleich zum Vorjahr um rund 20 Prozent zugenommen hätten (Superlative). Das nervt Urlauber und schadet Handwerkern, die für alles länger brauchen. Noch problematischer wird es, wenn Schulen nicht renoviert oder ganze Regionen mangels schneller Internetverbindung abgehängt werden. Dagegen könnte man ruhig mal die Schwarze Null opfern. Benjamin Knödler

L

La La Land Der Spruch „Dance like nobody’s watching …“ wurde der Crew von La La Land offensichtlich nicht ins Poesiealbum geschrieben. Im Stau zwischen Freeway 105 und 110 wird in der Eröffnungsszene getanzt, als säße in einem der Autos ein Coach, der abhakt, ob auch jeder Move, der klischeehaft für Musicaltanzszenen steht, ordentlich performt wird. Die Klappe eines Lasters öffnet sich, dahinter verstecken sich Menschen – aber nicht etwa illegale Einwanderer, sondern eine Big Band, die manisch auf die Pauken haut, kaum dass der Sauerstoffpegel steigt. Was fehlt: Ein Grantler (Polt, Gerhard), der das Ende dieses gutgelaunten Irrsinns herbeihupt. Christine Käppeler

O

Oberseminar Als junger Student besuchte ich einmal in einem Anflug von Tatendrang und Selbstüberschätzung ein Oberseminar des berühmten Literaturwissenschaftlers Gumbrecht. Dieser ging ohne Umschweife in medias res seines philosophischen Gesamtwerks, das, so schien es mir, allen Anwesenden bekannt war. Leider verstand ich nach seiner Eingangsfrage „Was kommt also nach der Krise der Hermeneutik?“ nichts mehr (La La Land), sodass ich nicht in der Lage war, etwas von seinem Vortrag zu notieren, bis der Professor aus Stanford nach anderthalb Stunden zu seinem Resümee kam: „Und daher sollten wir mehr über Phänomene wie Staus oder Schwärme nachdenken.“ Erfreut über dieses pragmatische Fazit schrieb ich die beiden Begriffe auf. Am Ende stand auf meinem Zettel also: „Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht – Was kommt nach der Krise der Hermeneutik?“ und darunter „Staus/Schwärme“. Ich habe den Zettel aufgehoben. Tilman Ezra Mühlenberg

P

Polt, Gerhard Die meisten Staus entstehen durch den Kabarettisten. Er fährt einen großen, schnellen Wagen, diesen jedoch so langsam, dass es hinter ihm zu gigantischen Stauungen kommt. Ja, er werde deswegen oft verspottet, bekennt Polt. Aber für ihn sei der Weg das Ziel. Und das besteht eben darin, im Auto zu sitzen. Zum Glück. Denn ein rasender Polt hätte den Lebensraum Auto niemals derart gründlich erkunden können. Niemals hätte er über Vivaldi-Four-Seasons-Climate-Seats nachgedacht oder „Essential Night Vision ausprobiert. Und wir hätten niemals von all den potenziellen Suizidlern erfahren, die sich nächtens auf den Straßen herumtummeln: vom Igel bis zum apokalyptischen Radfahrer, von der Wildsau (Trieb) bis zum Fußgänger. Ja, sogar die Frau des Polt’schen Autofahrers, unter Pedestrian Desease leidend, hätte darunter sein können. Zum Glück saß sie neben ihm – in Polts großartigem Autofahrermonolog. Susanne Berkenheger

S

Superlative Darum, wer den Längsten hat, streiten viele. Das Guinness-Buch gibt den längsten Stau mit 176 Kilometern zwischen Paris und Lyon an – das war aber schon 1980. Die schlimmste Staustrecke in Deutschland ist die A3. Gleich drei Abschnitte zählt der ADAC zu den Top Ten unter den Stop-and-Go-Fahrten 2016.

Insgesamt stiegen die Staukilometer für das Jahr auf 1.378.000 an (2015: 1.130.000). Auch die stillstehend oder zähfließend verbrachten Stunden (Zug) summierten sich beträchtlich und lagen bei 419.000 Stunden (2015: 341.000) Ein Trostpflaster zu Ostern: Mehr Staus zählte der ADAC in den Sommermonaten. Dann kommen noch ausländische Touristen hinzu. Beim Hasenfest blockieren sich Deutsche überwiegend selbst. Tobias Prüwer

T

Trieb Es klingt ganz einfach: Staut sich innere Erregung (Gefühl) auf und kann nicht in entsprechenden Handlungen abfließen, bricht diese sich eben ungelenkt Bahn. Laut Konrad Lorenz vollziehen Tiere daher Leerlaufhandlungen: Vögel etwa bauen aus innerem Drang Nester, obwohl ihnen das Material fehlt.

Freud hat den Triebstau als Aggressionsmotor so populär gemacht, dass er in die Allgemeinsprache Eingang fand. Die angestaute Erregung macht sich verbal vulgär oder physisch brachial Luft. Die Instinkttheorien hinken, weil sie voraussetzen, was sie erklären wollen. Beim zur Kultivierung immerhin fähigen Menschen ist die Sache mit den Trieben eh komplizierter. Zum Glück hat er die Wissenschaft erfunden: Der Ausfluss neuer Theorien verhindert jeden Papierstau. Tobias Prüwer

V

Verkehrsminister Strukturschwache Regionen sehnen sich nach Stau als Ausdruck von Fortschritt, Wachstum, Ballung und Aufbruch. Fehlender Stau macht stutzig, denn offenbar hat niemand etwas zu tun. Ein moderner Verkehrsminister steht also vor einem Paradox, das wir (so ähnlich) aus der Entwicklungshilfe kennen: Er muss dafür sorgen, die Infrastruktur instand zu halten, auszubauen und für die Zukunft zu rüsten, gleichzeitig aber gilt es, stets für ausreichend Stau sorgen, sonst springen die Investoren ab! Wir lernen, in Wahrheit ist der Verkehrsminister ein Entwicklungshelfer. Sollte er jemals überflüssig werden, ist es mit dem Wirtschaftswunder vorbei. Timon Karl Kaleyta

W

Weekend Staus sind paradoxe Ereignisse. Als Stau bezeichnet man einen Zustand, in dem die Bewegung zum Erliegen kommt, weil und obwohl zu viel von etwas vorhanden ist. Unsere Gesellschaften steuern unaufhörlich auf diesen Zustand zu, im Stau äußert sich ihr systeminhärentes Versagen. Staus sind nicht produktiv (Investition) oder meditativ; niemand möchte in einen Stau geraten, und doch trägt jeder dazu bei, dass sie permanent entstehen. Der Stau passiert, er ist ein Symptom für ein Leiden.

Jean-Luc Godard verdichtet dieses Leiden in seinem Film Weekend auf eine einzige Szene: Die etwa zehnminütige Kamerafahrt entlang eines Autostaus, begleitet von einem enervierenden Dauerhupen, zeigt zunächst Bilder von vollendeter Absurdität, bis wir am Ende der Fahrt endlich die Ursache für das Chaos erblicken: Zahlreiche Leichenteile liegen nach einem Verkehrsunfall unbeachtet auf der Straße herum. Teilnahmslos winkt die Polizei die schimpfenden Autofahrer vorbei. Tilman Ezra Mühlenberg

Z

Zug Während man seine Tickets für die Ostertage bucht, gerät man ins Träumen: Entspannt gondelt man durch die Republik, ganz ohne Staugefahr. Leider ist da noch die Deutsche Bahn (Verkehrsminister). Um die Feiertage staut es sich auch im Zug: Erst nach einigem Rempeln ist man an seinem Platz – sofern man einen reserviert hat. Andernfalls beginnt der Kampf um die Sitze im Bordbistro. Oder aber man steht aneinandergedrängt im Gang mit denjenigen, die sich in die Schlange für eine der beiden noch funktionierenden Bordtoiletten eingereiht haben.

Nächste Halte Wolfsburg, ein Rollkoffer rempelt. Da ist dann das unselige Gefühl der Machtlosigkeit und der Stagnation, das einen in jedem Stau begleitet. Einen Vorteil gibt es aber doch: Schneller als die Autofahrer ist man allemal. Benjamin Knödler

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