Für dich, Land des Friedens, Palästina, bete ich, voller Wut und voller Zuversicht", klingt es aus einem Wohnzimmer im palästinensischen Flüchtlingslager Ein el-Helwe im Südlibanon, nahe der Stadt Saida. Das berühmte Lied der libanesischen Sängerin Fairuz wird in diesen Tagen oft gespielt, es läuft auf allen arabischen Fernsehsendern. Genauso traurig und emotional wie diese Hymne auf das heilige Land sind die Bilder: Szenen der Intifada, Steine werfende Kinder, Verletzte, Tote, weinende Mütter, wütende Väter, und immer wieder der Junge, der hinter dem Rücken seines Vaters vor den Kugeln israelischer Soldaten Schutz sucht. Der 12-jährige Mohammad al-Durrah ist nur einer unter vielen Toten, doch in Ein el-Helwe ist er zur Ikone geworden. Sein Foto wurde über das ganze Lager verteilt auf die Hauswände geklebt, die schreckliche Todesszene auf die Mauern gepinselt, Transparente mit seinem Namen hängen über den Strassen.
"Unsere Landsleute in Palästina brauchen unsere Solidarität", erzählt Lama. "Sie müssen spüren, dass sie bei ihrem Aufstand nicht allein sind. Wir unterstützen sie, so gut wir eben können, mit Demonstrationen, Transparenten, Briefen." Die 24-jährige Literaturstudentin arbeitet bei Ghassan Kanafani, einer sozialen Einrichtung für Lagerkinder. Wenn sie von Mohammad al-Durrah berichtet, treten ihr Tränen in die Augen, sie ringt nach Worten. "Wie können die Israelis auf unsere Kinder schießen. Was haben die denn getan? Nur Steine geworfen! Ist das ein Grund, sie zu töten?"
Die Kinder des Jugendzentrums haben einen Brief an die Mutter des toten Jungen geschrieben. Selbst die Sechsjährigen wollten etwas tun. "Wir haben viel über die Intifada gesprochen. Die Kinder haben Bilder gemalt, fast alle zeigen Steinschleudern oder die palästinensische Fahne." Das verlorene Heimatland wird von den Eltern an die Kinder weitergegeben. "Ich habe auch gegen die Israelis protestiert", erzählt der 14-jährige Rimah stolz. Auf seiner rechten Hand ist eine Wunde zu sehen. "Ich habe eine israelische Fahne gemalt und dann wollte ich sie auf der Straße verbrennen. Doch dabei hat es leider meine Hand erwischt", gibt er etwas kleinlaut zu. "Danach bin ich trotzdem auf die Straße gegangen, habe mit den Großen zusammen demonstriert und Hisbollah-Lieder gesungen." Wie Rimah denken fast alle Jungen im Lager: "Wir wollen nach Palästina gehen und Steine schmeißen, gegen die israelischen Soldaten." Das ist ihnen wichtiger als der geliebte Fußball; jedoch unmöglich.
Die südlibanesische Grenze, ungefähr eine Stunde Autofahrt von Ein El-Helwe entfernt, wird hermetisch von der libanesischen Armee abgeriegelt; den Palästinensern ist der Zutritt ins Grenzgebiet verboten. Nicht nur die Jugendlichen, auch die Älteren wollten mit ihren Kumpels in den Süden fahren. "Wir waren einfach so wütend über das Vorgehen der israelischen Armee gegen unsere Leute. Wir wollten unbedingt etwas tun, stiegen ins Auto und fuhren los. Am Checkpoint Nakura haben sie nach unseren Pässen gefragt. Meine Freunde und ich haben alle palästinensische Papiere. Da haben sie uns wieder nach Hause geschickt", erzählt der 29-jährige Salah frustriert. "Was sollen wir machen? Hier im Lager können wir nichts tun außer zu demonstrieren. Selbst die Libanesen verstehen uns nicht. Neulich starb ein reicher libanesischer Geschäftsmann. Da haben sie in Saida alle Läden geschlossen. Aber als über 90 unserer Landsleute starben, ging der Alltag in der Stadt normal weiter."
Der junge Mann ist wütend und hilflos. Das Leben im Lager hat für ihn keinen Sinn. Er kann sich der Intifada nicht anschließen, ist im Libanon zur Untätigkeit verdammt.
Schon vor den Unruhen fühlte er sich hier diskriminiert. Den im Libanon lebenden Palästinensern ist der Zutritt zu den meisten Berufssparten untersagt. Wer für einen geringen Lohn im Bausektor arbeitet, kann sich glücklich schätzen. Doch selbst diese begehrten Jobs sind umkämpft; syrische Saisonarbeiter lassen sich für noch weniger Geld anwerben. So bleibt ihnen nur der informelle Sektor.
An der Hauptstraße von Ein el-Helwe reiht sich ein kleiner Lebensmittelladen neben den anderen. Davor drängen sich Taxis, alle mit schwarzen Bändchen um den Mercedesstern, zum Zeichen der Trauer. Selbst dieses Transportgeschäft ist den Palästinensern verwehrt, die meisten Taxen im Lager sind illegal. Viele Flüchtlinge arbeiten als Müllmänner, sie sammeln den Dreck auf und sortieren ihn. Die Bildungschancen in den Lagern sind miserabel, alle Schulen der UNO-Hilfsorganisation UNRWA hoffnungslos überfüllt, die Studiengebühren an den Universitäten für die Mehrheit unerschwinglich. Doch selbst Universitätsabsolventen müssen ihr Dasein als Gemüseverkäufer fristen. Dementsprechend niedrig ist der Lebensstandard.
Die Häuser in Ein el-Helwe sind klein, die Gassen verwinkelt. Da Palästinenser außerhalb des Lagers nicht bauen dürfen, streben die Häuser in die Höhe. In einem Haus wohnen dann zwei oder drei Generationen unter einem Dach, jede hat ihr eigenes Stockwerk. Oft sind selbst die engen Gassen überbaut, um noch ein paar Quadratmeter Raum zu gewinnen. Dazwischen windet sich ein Gewirr von Stromleitungen. "Wir sind Bürger zweiter oder dritter Klasse im Libanon, wir haben keine Rechte", schimpft Salah. "Soll ich nutzlos rumsitzen, bis ich alt bin? Da sterbe ich lieber für mein Land. Ich habe hier sowieso nichts zu verlieren."
So wie Salah denken viele, nicht nur in Ein el-Helwe, auch in den anderen Lagern.
In Schatila, einem großen Palästinenserlager in Beirut, sieht es ähnlich aus, entsprechend angespannt ist die Stimmung in diesen Tagen. Ein Trauerzug zieht durch die Gassen, in der Mitte tragen Männer einen Toten auf ihren Schultern. Hinter der Bahre geht eine junge Frau, gestützt von zwei anderen. Sie ist hochschwanger und die Frau des Toten. "Allah-hu-akbar"-Rufe schallen durch die Gassen, die Menschenmenge ist wütend. Sie rufen "Tod den Zionisten" und wettern gegen die USA. Vom Minarett der Moschee bringt ein aufgebrachter Scheich die Menschenmenge noch mehr in Rage. Hassan, vor einigen Stunden noch ein emotionaler junger Mann, ist jetzt ein Märtyrer. Mit einigen Freunden hatte er es geschafft, sich in einem Bus der Hisbollah einen Platz zu sichern, um an die südlibanesische Grenze zu gelangen. "Wir wollten Steine und Molotow-Cocktails werfen, den Zaun zerschneiden und über die Grenze in unser Land hinüberlaufen", erzählt sein Bruder Ahmad. "Als es meinen Bruder erwischt hat, haben Freunde ihn weggetragen und ins Krankenhaus gebracht, doch ich bin geblieben und habe weiter Steine geschmissen." Angst vor den schießenden Israelis hatte er keine. "Sie sind Feiglinge, aber wir Palästinenser haben keine Angst, unser Blut zu verlieren. Für unser Land geben wir unser Leben", erklärt er kategorisch.
Nach der Beerdigung versammeln sich die Verwandten, Freunde und Nachbarn des Toten im Haus. Die Männer sprechen Gebete und lesen aus dem Koran, die Frauen klagen. Hassans Schwester Karime serviert den Trauergästen bitteren Kaffee, so wie es der Brauch vorschreibt. Sie kämpft mit den Tränen. Ihre Schwägerin steht unter Schock. Verwandte umarmen sie, streichen ihr über den Bauch: "So Gott will, wird es ein kleiner Hassan, dann wird er in die Fußstapfen seines Vaters treten." Der Vater nickt zustimmend. Er ist ein einfacher, gläubiger Mann. Sein Sohn sei gut gewesen, habe auf ihn gehört. Auch die Verwandten bestätigen, was für ein wunderbarer Mensch er war. Die wohlmeinenden Worte setzen der jungen Witwe besonders zu. Freunde bringen T-Shirts mit einem Foto von Hassan darauf. Das Bild zeigt ihn mit einem breiten Lächeln auf den Lippen und Goldkettchen um den Hals. Die werdende Mutter und die beiden jüngeren Brüder streifen sich das Kleidungsstück über.
Das Schicksal hat die Familie hart getroffen, erst vor drei Monaten starb ein anderer Sohn bei einem Autounfall. "Bevor er losfuhr, hat Hassan seiner Frau gesagt, dass er ein Märtyrer werden wolle. Er war so aufgebracht angesichts der Situation in Palästina. Keiner konnte ihn davon abhalten zu gehen", berichtet Karime. Jetzt müsse sie ein Versprechen einlösen, das sie ihrem Bruder vor seiner Fahrt in den Süden gegeben habe: sich um seine Frau und das Baby zu kümmern, falls er nicht zurückkomme.
"Hassan ist ein Held, er ist in Palästina gestorben, nicht im Libanon", erklärt Ahmad. Sein Bruder habe es geschafft, über den Zaun zu klettern, da hätten die Israelis auf ihn geschossen. Einen Freund hat es mit Tränengas erwischt. Er ging ins Krankenhaus, da wollten sie ihn nicht behandeln, weil er kein Geld hatte. Seine Augen sind gerötet, er fühlt sich schwach und ihm ist übel. Dennoch schließt er sich den Trauernden an, umarmt Hassans Vater. Vor dem Haus hat sich eine große Menschenmenge versammelt, man hat den Eindruck, als sei die gesamte Bevölkerung von Schatila zusammengekommen. Sie kleben Kopien von Hassans Foto an die Hauswände des Lagers. Spontan bildet sich eine Demonstration, die Leute sind wütend, feuern mit Kalaschnikows in die Luft, schwenken Fahnen der Hisbollah und der Palästinenser. "So eine Stimmung habe ich seit den Lagerkriegen von 1985 nicht mehr hier erlebt", erzählt Hassans Nachbar Mahmoud. "Die Menschen haben die Schnauze voll von diesen Lebensbedingungen. Sie wollen endlich in ihre Heimat zurückkehren und sie haben ein Recht darauf."
Eine Woche später, in Ein el-Helwe, sitzt Salah mit seinen Freunden wieder vor dem Fernseher. Natürlich laufen dort die Nachrichten. Die Jugendlichen brechen in Jubel aus, als die Moderatorin bekannt gibt, dass die Hisbollah einen weiteren Israeli entführt hat, angeblich ein Geschäftsmann, der mit dem israelischen Geheimdienst Mossad zusammenarbeitet. Die Sprecherin kann sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die Jungen haben das Gefühl, endlich geht jemand für sie in die Offensive: "Nur mit der Intifada und der Hisbollah können wir unsere Rechte erlangen ..."
Der Alltag in Ein el-Helwe hat sich gründlich geändert: In einem Laden um die Ecke stehen vier Fernseher. Vor drei Wochen konnte man dort nur ägyptische Seifenopern anschauen. Jetzt ist auf jedem ein anderer Nachrichtenkanal geschaltet. Viele Jugendliche, die sich nie für Politik interessierten, sind aus ihrer Apathie erwacht. Trotzdem, die Machtlosigkeit ist geblieben. "Jeden Abend diskutieren wir, was wir machen können, aber wir wissen es nicht", meint Salah frustriert. "Wir dürfen noch nicht einmal außerhalb des Lagers demonstrieren, die libanesischen Soldaten lassen uns nicht raus."
"Diese Machtlosigkeit ist ein Scheißgefühl", stimmt ihm sein Freund Wassim zu. Jeden Abend sitzen sie vor dem Fernseher und schauen den palästinensischen Jugendlichen zu, die in Ramallah, Gaza und Hebron auf die Straßen gehen. Es gibt keinen Frieden, nicht unter diesen Bedingungen. Die Palästinenser sind zwar vergleichsweise schwach, doch ruhen würden sie nicht. "Israel will Krieg. Die haben uns während des ganzen Friedensprozesses erniedrigt. Jetzt gibt es eine neue Intifada, und wir sind froh, dass das so ist. Wir schlagen zurück." Ein älterer Freund stimmt dem nicht ganz zu: "Wir wissen, dass wir die Schwächeren sind. Eines Tages muss es wieder Verhandlungen geben. Aber nicht um jeden Preis. Wir wollen konkrete Ergebnisse sehen." Israel solle ein deutliches Zeichen setzen, am besten in der umstrittenen Jerusalemfrage. Dann könne man weiter verhandeln. Aber nicht so, wie bisher. Die jungen Palästinenser fühlten sich allein gelassen: Die internationale Gemeinschaft schreie auf, wenn drei israelische Soldaten entführt würden, "aber wenn Kinder in Gaza sterben, kümmert sich niemand darum", sagt Salah. Auch die arabischen Politiker stünden nicht auf ihrer Seite, doch die vielen Demonstrationen in Ägypten, Irak und anderen arabischen Ländern gäben ihnen Hoffnung.
Die Nachrichten sind zu Ende, über den Bildschirm flimmert die Goldene Kuppel der Al Aksa-Moschee, dazu ein Lied von Fairuz über Jerusalem. "Wie wär's, wenn wir ans Meer fahren, da gibt's so viele hübsche Mädels", fragt Wassim seine Freunde. "Es ist Wochenende, Jungs! Und ich habe für heute die Schnauze voll von Nachrichten." Die anderen stimmen ihm zu und ziehen los - ins Leben.
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