Stellenweise Glatteis

Frankreich Emmanuel Macron begibt sich in Gefahr: Er will die Rente reformieren
Ausgabe 42/2019
Franzosen demonstrieren im September gegen die Reform des Rentensystems
Franzosen demonstrieren im September gegen die Reform des Rentensystems

Foto: Gerard Julien/AFP/Getty Images

Mittlerweile sind die Proteste der Gelbwesten verebbt, doch nun sieht sich Emmanuel Macron mit seinen Plänen zur Rentenreform einem Konflikt gegenüber, der eine neuerliche, unkalkulierbare Welle von Gegenreaktionen auslösen könnte. Alain Juppé, der Mentor des aktuellen Premiers Édouard Philippe, bezahlte 1995 seinen Rentenreformversuch mit dem Rücktritt – nicht zuletzt wegen eines engagierten Auftritts des Soziologen Pierre Bourdieu, der sein Prestige mobilisierte, um eine Reform auf Kosten kleiner Pensionäre zu verhindern.

Den September über demonstrierten Rechtsanwälte, Ärzte und andere Freiberufler gegen die Reformpläne Macrons. Es sekundierten 15.000 Eisenbahner in Paris und ebenso viele Anhänger der Gewerkschaft CGT und von Actes Sud Solidaires in Marseille. Schließlich riefen die Gewerkschaften in den Pariser Verkehrsbetrieben (RATP) erstmals seit zwölf Jahren wieder zu einem Generalstreik auf. Für den 5. Dezember planen allein fünf Gewerkschaften einen „Nationalen Marsch des Zorns“, dem sich auch ein Polizeiverband anschließen will. Nicht ohne Grund spricht Amélie de Montchalin, Staatssekretärin für europäische Angelegenheiten, von einer Atmosphäre „allgemeinen Misstrauens“.

Da ist es nur verständlich, dass der Präsident seinen Reformeifer drosselt und auf „Zuhören, Dialog und Nähe“ umstellt, um nicht den fatalen Eindruck zu erwecken, er wolle „Reformen gegen das Volk durchsetzen“. Er beharrt zwar auf seinem „umgestaltenden Anspruch“, will aber vorsichtiger agieren. Sollte es zu einer Reform kommen, wäre die erst nach den Kommunalwahlen im März 2020 parlamentarisch abzusegnen. Auch das zeigt, wie die Regierung taktiert und ein erhöhtes Renteneintrittsalter noch nicht besiegelt ist.

Unbestreitbar bleibt jedoch, dass Frankreichs Rentenordnung reformbedürftig ist. Allein im öffentlichen Dienst gibt es 42 personen- bzw. berufsbezogene Systeme, die nur noch Fachleute durchschauen. Kampfstarke Gruppen wie die Bus- und Metrofahrer sowie die Lokführer haben sich mit 55 Jahren einen frühen Rentenbeginn und Bruttobezüge zwischen 2.600 und 3.700 Euro erkämpft. Sie erhalten damit durchschnittlich 400 Euro mehr als die meisten Beamten im öffentlichen Dienst. Macrons Reform, die der Spitzenbeamte Jean-Paul Delevoye ausgearbeitet hat, möchte diese Ungleichheit ab 2025 sukzessive für alle ab Jahrgang 1963 beseitigen – bei Besitzstandswahrung für die Älteren. Das Grundprinzip würde in einem Punktesystem bestehen, das jeder und jedem für geleistete Beiträge unabhängig von der Art der dafür geleisteten Arbeit einen gleichen Anspruch auf eine Rente garantiert. Mit dem Slogan, „je mehr von uns Beiträge zu diesem System zahlen, desto stärker werden die Solidarität und Absicherung“, adelt Premier Philippe das neue Punktesystem zum Garanten allgemeiner Gerechtigkeit. CGT und Force Ouvrière bestreiten jedoch vehement, dass ein allgemeingültiges Punktesystem eben das bewirkt.

Auch der renommierte Ökonom Thomas Piketty bezweifelt einen Automatismus zwischen universellem Punktesystem und Gerechtigkeit. Er hält das neue System zwar für „ziemlich plausibel“ und „geeignet, Unsicherheiten und Ängste“, die das alte System erzeugte, zu beseitigen. Aber er befürchtet, der neue Modus werde Ungleichheiten, die etwa aus langer Arbeitslosigkeit oder unterbezahlten Gelegenheitsjobs resultieren, zementieren. Er hält eine breite Debatte darüber für nötig, um Verzerrungen zu beseitigen, die aus der unterschiedlichen Lebenserwartung von Angehörigen verschiedener Klassen und der damit verbundenen unterschiedlichen Dauer des Rentenbezugs resultieren. Piketty plädiert dafür, ein Viertel der Beiträge solidarisch an die von Anfang an Benachteiligten zu verteilen, um den Skandal zu beenden, dass kleine Rentner mit unterdurchschnittlicher Dauer des Rentenbezugs bessergestellte Rentner mit überdurchschnittlich langem Rentenbezug finanzieren.

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