Stellvertreter

Linksbündig Die Kapitalismus-Debatte braucht die Anstrengung des Begriffs

Das Schöne an Kapitalismusdebatten ist, dass ganz spontan immer so viele daran teilnehmen. Auf Spiegel- und Zeit-online wurden deshalb auch gleich Foren eingerichtet, auf denen vielfach zu lesen ist, die Kritik am System sei "wohl nicht völlig" oder "wohl kaum ganz" abwegig. Die Zeit hat auch sofort eine Serie zum Thema angekündigt, die Robert Menasse bereits begonnen hat und in der "viele berühmte Soziologen", also vermutlich Richard Sennett and friends, nachfolgen werden.

Sehr leicht wäre es nun, eine Kritik der Kritik folgen zu lassen, also zu bemängeln, dass sie affirmativ und nicht radikal genug ist, nur ein kurzlebiger Sturm im Wasserglas und geeignet, den weit verbreiteten Unmut aufzunehmen, um ihn umso gründlicher wieder zu verdrängen. Sicher ist da etwas dran, und die lange Geschichte der Kapitalismuskritik ist geeignet, aktuell vieles zu entdecken, was besser unterlassen werden sollte. Wenn zum Beispiel zum Boykott gegen unmoralische Konzerne aufgerufen wird, wie das die bislang kapitalismuskritischer Umtriebe unverdächtige SPD-Landesvorsitzende Ute Voigt aus Baden-Württemberg gerade vorgeschlagen hat, ist das Schlimmste zu befürchten. Die Forderung des landesweiten "Käuferboykotts" wurde schon im 19. Jahrhundert regelmäßig erhoben, und sie kam immer aus dem nationalistischen Lager. Wenn dann auch noch das Wort "Standort" vorkommt, empfiehlt sich das Weghören.

Auch Personalisierungen waren immer mal wieder beliebt. Früher figurierten Springer oder Gates als das personifizierte Böse, heute sind es Hundt und Ackermann. Brecht schrieb zwar in der Kriegsfibel: "Die dunklen Mächte, die dich da schinden, sie haben Name, Anschrift und Gesicht." Aber ihm war natürlich klar, dass sie nur stellvertretend für ein System agieren, das über beliebige personelle Alternativen verfügt.

Doch bei allen Einwänden gegen die Kapitalismuskritik des politischen und journalistischen Mainstreams ist zu bedenken, dass von dort nun wirklich keine fundierte Analyse des Kapitalismus zu erwarten ist. Dort wird mit einer durchsichtigen politischen Intention auf eine gesellschaftliche Stimmung reagiert. Münteferings Kalkül ist alles andere als ein Geheimnis. Was fehlt, sind theoretische Parameter, auf die auch der Mainstream Rücksicht nehmen muss. Wer weiß heute noch, was Produktionsverhältnisse sind und kann über den Begriff der gesellschaftlichen Elite einigermaßen kompetent Auskunft geben? Der letztere Komplex zum Beispiel ist eine gute Schulung für angehende Kapitalismuskritiker. Wer sich zum Beispiel über die Netzwerke der Reichen und Mächtigen informiert (und das ist durch eine ganze Reihe von Veröffentlichungen sehr gut möglich), kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die moralisch schwer bewegten Personalisierer in Parteien und Publizistik nur mit den niederen Chargen abspeisen lassen. Dem Kapital eine Adresse zuzuweisen, ist jedenfalls überhaupt kein Problem, wenn Begriffe von Macht und Kapital vorhanden sind.

Es gibt also viel aufzuholen; das Bedürfnis nach Wissen und Kritik ist zweifellos vorhanden. Und die Reaktionen der inkriminierten Unternehmer und ihrer Verbände sind ausgesprochen ermutigend. Wer wissen möchte, was eine schlechte Verteidigung ist, findet hier viel Material. Mag sein, dass nach langen Jahren der neoliberalen Daueragitation ein paar Standort-Phrasen genügen - aber angesichts der sozialen Verheerungen ist von dieser Seite ganz offenbar auch nicht viel mehr zu erwarten. Um den Kapitalismus der Gegenwart einigermaßen gut zu verteidigen, müsste wohl eine ganze Riege amerikanischer Staranwälte verpflichtet werden.

Aus den Finanzmärkten dringt schon seit Jahren der Ruf nach staatlicher Regulierung. Und jetzt kommt aus der politischen Mitte die Aufforderung zur Debatte über den Kapitalismus. Das denkbar Sinnloseste wäre jetzt, über die Motive der Initiatoren zu spekulieren und perspektivisch auf eine, möglicherweise bald oppositionelle, Sozialdemokratie oder einige ihrer "Abweichler" zu setzen. Das wäre nichts anderes als ein Beleg für die mittlerweile erreichte intellektuelle Demoralisierung.

Hat nicht Robert Menasse in der Zeit bereits die Worte "Kapitalismus" und "überwinden" miteinander kombiniert? Das ist zwar nur eine kleine Sottise, aber immerhin eine gute Idee. Auf jeden Fall sage niemand, es gebe nirgendwo in den linken Ecken und Nischen Konzepte oder Theorien. Wer hat das behauptet? Josef Ackermann? Oder war es doch Franz Müntefering?


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