Er fotografierte, schrieb, malte – immer wieder ging es um das Land, das er als Wehrmachtssoldat mit seinen Kameraden verehrt hatte: Karl Schäfer (1914 – 2002)
Portrait: privat
Ein Bahnhof in Schwarz-Weiß, Sowjetunion, späte 1960er. Ein riesiger Karl Marx wacht über der Wartebank. Rechts ein Mütterchen, hinter ihren Koffern eingeschlafen. Ganz links eine junge Frau in einer weißen Haube, vielleicht Krankenschwester? Ihr halb zugewandt ein Mann mittleren Alters, grau in grau mit Schiebermütze. Kennt er die Frau? Will er Kontakt? Noch blickt sie geradeaus.
Ich kann nicht sagen, wo und wann genau Karl Schäfer dieses Bild gemacht hat. Es könnte Moskau sein, aber auch woanders. Bereist hat er die UdSSR nicht nur einmal. An der Szene interessiert haben dürfte ihn vor allem jener Mann. Als Einziger auf dem Bild ist er in Bewegung und dann doch wieder nicht. Er wirkt noch in der Zuwendung defensiv und verloren.
Solche Männe
Solche Männer finden sich häufig auf Fotos von Karl Schäfer. Er fotografierte sie in der Sowjetunion, aber auch in Frankreich – dort, wo er 25 Jahre zuvor gekämpft hatte. Es sind Männer seines Alters. Sie hätten seine Gegner sein können in dem Krieg, den er nicht vergessen wollte. Karl Schäfer war sein Leben lang Soldat. Vor seinem Tod hängte er an seiner Kammertür den letzten Wehrmachtsbericht auf, die Pressemitteilung zur Kapitulation.Fotos für Frau GoldinaDieser Mann war mein Vater. Er war fast 60, als ich 1973 als zweiter von drei Söhnen am Bodensee zur Welt kam. 2002 ist er verschieden. Zehn Jahre zuvor war ich ausgezogen, gesprochen hatte ich ihn seither wenig, und wenn, dann oft im Streit. Aber gedacht habe ich viel an ihn, besonders wenn ein 9. Mai nahte. Für manche meiner linken Berliner Bekannten war es ein Spaß oder „Statement“, dann zum sowjetischen Ehrenmal in Treptow zu pilgern. In diesen Kreisen waren „Stalingrad“-Shirts in Mode. Ich hatte Vaters Stimme im Ohr. Er hat mir mal vorgemacht, wie der deutsche Stuka klang und wie die russische Katjuscha – Waffen, die schon durch ihren furchtbaren Lärm Schrecken verbreiten sollten.Die Mai-Ausflüge zeigten, wie es um die Erinnerung an den mörderischen „Russlandfeldzug“ im vereinigten Deutschland stand: Russischsprachige, DDR-Nostalgie und Antifa-Punks, nicht eben die Mitte der Gesellschaft. Erst zum 8. Mai 2015 brachte Berlin ein Wort des Bedauerns wenigstens für die drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen über die Lippen, die an rassistischer Schikane starben. Bundespräsident Joachim Gauck sprach treffend von dem „Erinnerungsschatten“ über dem Vernichtungskrieg im Osten. Und nun, nach Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine, droht sich dieser vollends zu senken. Schon gibt es Vorstöße, solche Kriegsdenkmäler teils zu schleifen, beschmiert werden sie ohnehin. Nicht nur der Boulevard erwartet statt eines Gedenkens eine feindliche Operation. Ein dritter großer Krieg gegen Russland steht im Raum.Plötzlich sind Städte und Namen in aller Munde, die ich von meinem Vater kenne, etwa Stepan Bandera. Umso mehr kommt er mir in den Sinn. Nicht nur im zweiten dieser Kriege wurde Karl Schäfer verwundet, sondern schon im ersten. 1914 geboren, wuchs er in einer Kaserne auf, sein Vater war Zahlmeister in der Armee. Seine früheste Erinnerung war eine Schussverletzung: Die Kasernenkinder hatten Munition gefunden und klopften mit Steinen darauf. Einmal krachte es dann richtig. Der Hülsensplitter im Unterarm sei ohne Betäubung entfernt worden.Solche Geschichten hatte er einige. Einmal zeigte er mir einen Roten Stern. Der sei von der Mütze des ersten Russen, den er – Sanitäter der Wehrmacht – sterbend gefunden habe. Er sei bei ihm geblieben. In Frankreich hatte mal ein Pferd ausgeschlagen, einem Soldaten voll ins Gesicht. Er hatte das behandelt, natürlich ohne Narkose. So etwas erzählte er, wenn man ein aufgeschlagenes Knie hatte. Lange brauchte er, um von Jod auf ein Antiseptikum umzusteigen, das nicht so furchtbar brannte. Konnte helfen, was nicht wehtat?Karl Schäfer war 25, als der zweite Krieg begann. Was er vorher erlebt hat, wusste ich nie genau. Sein Vater, mein Opa, starb 1928. Wie war ein Leben als Halbwaise in der Weltwirtschaftskrise? Stolz war er auf sein altsprachliches Abitur. Er wäre gern Künstler geworden, aber studiert hat er nicht. Er ging zum Finanzamt, eine „sichere Sache“. In vielem war er ein Kind seiner Generation. Krieg, Hunger, Inflation, Wirtschaftskrise, Unruhen, Machtergreifung, Krieg, Gefangenschaft: Das formte all die Nägel-gerade-Klopfer, von denen er ein typischer war. Er schlang, als risse man ihm gleich den Teller weg. Im Kleingarten gab es keine Liegestühle, es wurde Nahrung angebaut. Er legte einen Fluchtgroschen in Gold an, stets griffbereit. Und doch war bei ihm etwas anders als bei den Kameraden des „Heimkehrerverbands“, die er zuweilen traf. Diese Besonderheit hatte Namen und Adresse: Jelena Goldina, Moskau.Placeholder image-1Wer das war und welche Rolle sie spielte, habe ich erst spät begriffen. In der Kindheit war der Name einfach da und löste freudige Gefühle aus. Mussten wir etwas Feines anziehen, um das „Foto für Frau Goldina“ zu machen, nahte der Advent. Mein Vater konnte einen ganzen Film verschießen. Die Abzüge kamen mit Schweizer Schokolade in ein Päckchen nach Moskau. Es kam eine Gegensendung, auch mit Schokolade: Im Geschmack etwas fade, aber diese Verpackung! Pompöse Reliefprägung mit goldumrandetem Sowjetstern.Russland, eine Sowjet-IkoneNach 1990 habe ich Frau Goldina getroffen, sie war mehrfach zu Besuch. Als Jüdin war sie mit ihrer Tochter über das Kontingent nach Stuttgart eingewandert. Aber verstanden habe ich diese Momente nicht. Da war etwas, das ich nicht einordnen konnte. Ich wusste, dass mein Vater sie in Gefangenschaft getroffen hatte, sie war im medizinischen Dienst seines Lagers. Dass sie ihm das Leben rettete, habe ich erst später erfahren: Trotz schwerster Tuberkulose schrieb sie ihn „transportfähig“ für die Rückkehr. Gleichfalls erst nach seinem Tod verstand ich, dass die beiden so etwas wie ein Paar gewesen waren, platonisch oder nicht, unter unmöglichsten Umständen. Sie war wohl ein Grund dafür, dass er nach dem Krieg fast zwanzig Jahre ledig blieb.Als er nach Osten verlegt wurde, packte mein Vater ein Russisch-Buch ein. Das wurde seine Lebensentscheidung. Diese Sprache führte nicht nur zur Begegnung mit Frau Goldina, der er als Übersetzer diente. Auch meine Mutter traf er später in einem Russisch-Konversationsklub. In all den künstlerischen Ambitionen, denen sich der kriegsversehrte Frühpensionär fortan hingab, ging es immer wieder um das Land, das er und seine Kameraden so furchtbar verheert hatten.Da war neben den Fotos sein größter „Erfolg“: ein Sammelband mit Humoresken aus der sowjetischen Satirezeitschrift Das Krokodil, den er 1966 im List-Verlag herausgab. Später verfasste er populär-philosophische Schriften, die in Kleinverlagen erschienen. Er suchte nach Mystizismus in der Moderne – unter spürbarem Einfluss „östlicher“ Theologie. Am einschlägigsten sind aber die Ölbilder, von denen er ein gutes Dutzend hinterließ.Karl Schäfer malte figürlich, in einem naiven Stil – immer wieder russische Idyllen. Ein alter Mann stützt sich auf der Bank vor seiner Bauernhütte auf den Spaten, neben ihm ein Mütterchen beim Spinnen. In einer Kleinstadt spaziert ein greises Paar am Arbeiterdenkmal vorbei, während die Kirche übernatürlich erstrahlt. Im Flur hing der Kreml, im Schlafzimmer eine Art Ikone: In der Mitte hebt Nikolaus die segnende Hand, der russische Nationalheilige. Um ihn herum Miniaturen von Dörfern, Mönchen, Adligen – aber auch das Kriegsschiff Aurora, wo die Revolution begann, und Arbeiter, die eine Metropole errichten. Das sprechendste Bild aber zeigt eine Bauernfamilie. In der Tür steht ein großer Mann in traditionellem Gewand: recht unverkennbar er selbst, Karl Schäfer.Placeholder image-2Was hat mein Vater da gemalt? Um das Jahr 2000 habe ich mich das oft gefragt. Ich schrieb damals eine Magisterarbeit über Osteuropa- und Russlandbilder in der deutschen Geschichtswissenschaft der 1920er. Ihm selbst habe ich die Frage nie gestellt. Zeitweise verdächtigte ich den Mann mit dem Wehrmachts bericht, Rechtfertigungen gepinselt zu haben: der deutsche Soldat als Retter des wahren Russlands vor dem finsteren Bolschewismus? Doch dafür malte er die Sowjetmotive zu co-utopisch. Er hatte eben nicht nur den Ruskaja Mysl abonniert, die Pariser Zeitung der konservativen Diaspora, sondern neben dem Krokodil auch Sowjetunion heute, die Hochglanz-Kulturzeitschrift für das Ausland.Andererseits kann von „Aufarbeitung“ kaum die Rede sein. Karl Schäfers Krieg war kein „geopolitischer“ oder Territorialkrieg, wie Putins jetziger im Kern einer ist. Und auch nicht bloß der Zusammenstoß von Faschismus und Kommunismus. Es war ein Kolonialkrieg im modernen Europa, getrieben von rassistischen Motiven, die sich bis ins 19. Jahrhundert verfolgen lassen. Sein Ziel war Versklavung, und so wurde er geführt: In Deutschland gab es um ein Vielfaches mehr uniformierte als zivile Opfer, in der UdSSR war das umgekehrt. Aufarbeitung hätte geheißen, das anzuerkennen – und auch, dass die reguläre Wehrmacht Teil davon war. Mein Vater konnte das nicht. Ich merkte das, als ich Mitte der 1990er versuchte, mit ihm über die „Wehrmachtsausstellung“ zu sprechen.Zuvor hatte ich eifrig in seinen Fotos aus dem Krieg selbst gewühlt. Anfangs waren private Kameras in der Truppe ja erwünscht. Ich fand ein grauenhaftes Bild von erhängten Zivilpersonen und meinte, die Smoking Gun gefunden zu haben. Er erinnerte sich sofort, sagte aber, das hätten sie so vorgefunden. Es sei in der heutigen Ukraine gewesen und die Täter wohl „Bandera-Leute“. Von Bandera sprach er dennoch mit Achtung. Er stand zwischen den Mächten, was sollte er tun? Viele seiner Männer hätten auf „unserer Seite“ gekämpft, Partisanenkrieg sei eben schmutzig. Ich habe das nicht geglaubt und meinen Vater angebrüllt. Später habe ich gelernt: Seine Geschichte kommt hin. Doch bis heute halte ich es für möglich, dass er Kriegsverbrechen zumindest gesehen und sein Wissen mit ins Grab genommen hat.Der Mann, der solche Bilder malte, war kein Pazifist. Er liebte es zu schillern und war vor allem immer dagegen. Er las rechte Intelligenzblätter wie Criticon, in seinem Regal stand neben Albert Camus etwa Alain de Benoist, der neurechte Vordenker. Alexander Solschenizyn war eines seiner Idole. Als die liberale Presse nach 1990 überrascht registrierte, dass der anti-stalinistische Dissident gar kein prowestlicher Demokrat war, musste ich lachen.Er hielt mir einmal einen Vortrag über Ernst von Salomon. Der Weimarer Rechtsterrorist, der mit Der Fragebogen den ersten Bestseller der BRD verfasste, gründete 1960 die „Deutsche Friedensunion“ mit. In der von Ostberlin finanzierten Kleinpartei traf er auf Kader der verbotenen KPD und Leute vom linken SPD-Rand. So etwas fand Karl Schäfer interessant. Vielleicht gab er bei den „Heimkehrern“ den Sowjetversteher, um ein wenig anzuecken. In seinen späten Jahren spielte er am 1. Mai gern mal die Internationale auf Russisch – brüllend laut bei offenem Fenster.Placeholder image-3Na klar, kann man nun sagen: Antiliberal, Querfront, Sowjetkult, AfD, Großrussland, Putin – passt doch alles wie gescriptet, auch zum aktuellen Krieg. Aber stellt so ein Leben nicht eine Frage? Dieser Mann konnte den „Landser“ nie abschütteln und sich nicht eingestehen, wie böse das war, dessen Teil er immer geblieben ist. Aber er hat es – mithilfe von Frau Goldina – geschafft, gegenüber dem Land, das wir mit zwei furchtbaren Kriegen überzogen haben, Empathie zu zeigen. Den allermeisten Deutschen liegt das fern, zumal denen aus dem tonangebenden Westen. Daher ist der alte Soldat, der sich so sehr an Russland abarbeitete, ja überhaupt eine Geschichte.Und jetzt: schwere Waffen!Die Aufarbeitung des Holocaust begann in der Breite mit der gleichnamigen Fernsehserie von Marvin J. Chomsky, die 1979 gesendet wurde. Zum Vernichtungskrieg gegen die „Untermenschen“ hat es so etwas nie gegeben, dabei betraf er fast jede Familie. Im Schweigen, im Nichts-hören-Wollen, im Beschönigen und in der Betonung eigenen Leids blieben alte Stereotype frisch. Sie lagen quasi im Eisfach des Kalten Krieges. Das zeigt sich etwa, wenn es um die sexuelle Gewalt am Ende des Weltkriegs geht: Man denkt dann sofort an „die Russen“. Dabei verteilten sich die Taten recht gleichmäßig auf die Alliierten, wie zuletzt die Historikerin Miriam Gebhardt darlegte.Nichts rechtfertigt einen Krieg. Es ist richtig, sich auf die Seite der Angegriffenen zu schlagen. Aber scheint das nicht manchmal auch schrecklich leicht zu sein? Es schwingt viel Unerledigtes mit in der Art, wie manche heute darüber reden. Wie können zumal die „Progressiven“, die sich und andere sonst so streng auf „koloniale Kontinuitäten“ oder „antisemitische Denkstrukturen“ abtasten, den Elefanten übersehen, der hier im Raum steht? Wie können sie ohne jedes Stutzen mit einschlägigsten Begriffen um sich werfen, bis hin zum „Vernichtungskrieg“? Wie können sich gebildete Deutsche für die zurückhaltende Politik Berlins „schämen“, falls es die noch gibt? Im seriösen Verfassungsblog war jüngst von „erkennbaren Parallelen zwischen Putins Angriff und dem Überfall Nazideutschlands auf Polen“ zu lesen.Das Geschichtsdreieck Berlin-Moskau-Kiew ist komplex. Von den sowjetischen Kriegsgefangenen, deren Schicksal Gauck betrauerte, kamen viele aus der Ukraine. Deren Bevölkerung hat schwer unter der deutschen Kriegsführung gelitten. Wir sollten uns, wie der Historiker Timothy Snyder anregt, mit all dem viel mehr befassen. Eine emotionale „Ukrainisierung“ der ganzen Kriegsgeschichte, die zuweilen schon anklingt, wäre aber ein Taschenspielerstück. Es bleibt unendlich schäbig, Adolf Hitler implizit oder ausdrücklich in der Stadt entsorgen zu wollen, die nach den wildesten Naziplänen komplett vernichtet werden und unter einem Stausee verschwinden sollte: Moskau. Und die Kollaborationsgeschichte des Bandera-Nationalismus gehört nun mal zur Wahrheit, wie sehr Putin auch darauf herumreitet.Einige derer, die früher in Treptow Stalingrad-Shirts trugen, fordern inzwischen „schwere Waffen“; ihr Zynismus ist ganz der alte. Ich selbst habe meine Mai-Besuche am Ehrenmal vor einigen Jahren eingestellt. Das lag daran, dass mir ein Waffenstillstand mit Karl Schäfer gelang. Ich bin früher gegen ihn dort hingegangen. Gegen seinen Wehrmachtsbericht, den ich immer umdrehte, wenn ich ihn sah. Dabei wäre er am Ende seines Lebens vielleicht mitgekommen – und ganz gewiss in diesem Jahr, schon weil das so verboten ist. Doch heuer wäre ich es, der sich nicht hintraut. Aus Angst, Zeuge von Szenen zu werden, in denen deutsche Polizisten an diesem Tag und Ort irgendwelche „prorussischen“ Wimpel konfiszieren. Denn dann müsste ich vor Scham im Boden versinken.
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