Stern des Wütens

Weltkino Die Besetzung des Filmtheaters Zvezda in Belgrad ist ein Symbol gegen Privatisierung und Korruption
Ausgabe 16/2015

Das alte Kino macht wieder Programm. Ende November des vergangenen Jahres wurde das Zvezda im Zentrum Belgrads nach sieben Jahren der Schließung von jungen Leuten besetzt. In der kulturell depressiven Privatisierungsära gibt es damit eine erste Hoffnung für eine unabhängige Kinoszene in der serbischen Hauptstadt.

Belgrad hat zwei Millionen Einwohner und zehn Kinos – wenig für die reiche Filmgeschichte der Stadt. Fünf Tage nach der ersten Kinovorführung der Lumières 1895 in Paris wurde der erste Kinofilm in Belgrad gezeigt, der erste Farbfilm lief bereits 1912. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs verfügte die Stadt über mehr als 40 Kinosäle. Trotz strenger Zensurpolitik blühte in den 50er bis 80er Jahren die jugoslawische Kinematografie und wurde als Kunstform respektiert und gefördert.

Heute gibt es in Belgrad vor allem vier große Multiplex-Kinos. Um sie zu besuchen, muss man die Einkaufszentren der Neustadt betreten. Zwei Drittel der Kinotickets werden dort gelöst. Drei bis fünf Euro muss man für die normale Vorführung bezahlen, acht Euro kosten Filme in 3-D. Das ist viel in einem Land, in dem das durchschnittliche Monatseinkommen bei 250 Euro liegt. Ermäßigungen gibt es dabei weder für Auszubildende noch für Rentner. Die Kinos gehören den Filmverleihern. Sie bestimmen, was gespielt wird, und gehen keine Risiken ein. So werden zumeist große US-Produktionen gezeigt.

Wegen der hohen Ticketpreise existiert ein Schwarzmarkt für kopierte DVDs auf den Straßen; der Trend ist aber rückläufig, seitdem Filme im Netz gestreamt werden können. Gut ausgewähltes Autorenkino und kleine Produktionen sucht man vergeblich darunter.

Grüße von Michel Gondry

Die Kinothek, das alte jugoslawische Filmarchiv, operiert in zwei Gebäuden mit drei Kinosälen in der Altstadt. Sie zeigt Werke der Filmgeschichte, zwei Tage der Woche sind für experimentelles Kino reserviert: Futurismus, Fluxus, Stan Brakhage. Obwohl das Ticket nur einen Euro kostet, sitzen in den meisten Vorführungen bloß zehn Leute. So finanziert sich die Kinothek hauptsächlich aus gewerblichen Veranstaltungen.

Unabhängiges Kino findet sich noch im Dom omladine, dem Haus der Jugend, und im Dvorana-Kulturzentrum. Die kleinen Institutionen schaffen kein großes Repertoire und bieten kein tägliches Programm. Dennoch geben sie kleinen Events wie dem Merlinka, einem LGBT-Filmfestival, Kurzfilm- und spezifischen internationalen Filmreihen Raum.

Die Besetzung des Zvezda hat einen neuen Ort für alternatives Kino geschaffen. Das Zvezda, serbisch für „Stern“, gehörte seit 2007 dem Geschäftsmann Nikola Djivanovic, der heute in London lebt. Er hatte der Stadt alle Kinos im Paket für 9,2 Millionen Euro abgekauft, was einem Zehntel des tatsächlichen Werts entsprach. Im Vertrag stand, dass der Zweck der Häuser fortgeführt werden sollte und die Kinos innerhalb von zwei Jahren nicht weiterverkauft werden dürften. Djivanovic hielt sich nicht daran und schloss die Kinos, fünf wurden an andere Privatpersonen veräußert. Djivanovic sagte dazu in einem Interview: „Die Belgrader Kinos starben vor langer Zeit, ich habe sie nur begraben.“

In einer Stadt, in der das Summen der Kultur verstummt ist, in der Museen seit mehr als zehn Jahren geschlossen sind, in der Medien zensiert und investigative Journalisten gefeuert oder gar ermordet werden, symbolisiert das Zvezda neuen Widerstand gegen die Privatisierung öffentlichen Eigentums, die Korruption und die Unterdrückung kritischer Meinung.

Nach vier Monaten ist das Kino lebendig und gut besucht. Auf dem Programm stehen Meisterwerke der sogenannten Schwarzen Welle der 60er Jahre wie neue Studentenfilme. Wiedereröffnet wurde das Kino mit Neposlušni (The Disobedient) der Filmemacherin Mina Djukic, einem Film, der 2014 auf dem Sundance-Filmfestival gezeigt wurde, aber noch in keinem serbischen Kino gelaufen war. Die Filmemacher Luka Bojović und Sinisa Galic drehen derzeit Filme über die Besetzung des Kinos; sie wollen die Arbeitsbedingungen von Kollektiven in der serbischen Kulturlandschaft zeigen. Im Foyer des Zvezda hängen Bilder und Beschreibungen der Belgrader Privatisierungen in den letzten 20 Jahren.

Für ihre Arbeit versuchen die Leute vom Neuen Zvezda Geld zu sammeln, eine erste Crowdfunding-Kampagne brachte keinen Erfolg. Jetzt gibt es einen neuen Anlauf. Hilfe kommt von Filmemachern und anderen Kulturarbeitern, auch von außerhalb. Michel Gondry hat einen animierten Film über das Zvezda gemacht, Alain Badiou im Kinosaal über die Wichtigkeit der Besetzung und den Kampf gegen Privatisierung von öffentlichem Eigentum gesprochen.

Die Leute im Zvezda sagen, das Kino sei weniger besetzt als vielmehr befreit worden: „Wir sind hier, und das Kino ist unser.“ Über dem Kinoeingang weht eine rote Flagge mit schwarzer Faust, die einen Filmstreifen umgreift. Am Eingang schwingen wechselnde Menschen eine Glocke und rufen: „Das Kino geht weiter!“

Benjamin Renter ist Fotograf

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