Sterndeutung

Sportplatz Ich würde nie zu einem Spiel von Hertha BSC gehen. Mein Freund ruft immer: "Bonzenclub" und wenn ich Samstagsnachmittags an einer Kneipe mit ...

Ich würde nie zu einem Spiel von Hertha BSC gehen. Mein Freund ruft immer: "Bonzenclub" und wenn ich Samstagsnachmittags an einer Kneipe mit "Premiere"-Etikette vorbei schlendere, schlägt mir Jubelei entgegen, sobald die "alte Dame" - so wird der Club genannt - mal wieder ein Tor kassiert. Keine Hand voll Siege konnte die Hertha in dieser Saison einfahren, sie ist die schlechteste Heimmannschaft der Bundesliga - nur ein Sieg in acht Spielen. Zurecht sitzt sie im Tabellenkeller fest. Nach der Amtsenthebung von Trainer Huub Stevens im vergangenen Jahr hat der Club Hans Meyer zum neuen Coach erkoren, der in frühen Tagen mal Carl Zeiss Jena zu zwei Meisterschaften führte. . Ich zur Hertha? Niemals. Aber da es sich gerade jetzt anbiete, wo das Olympiastadion noch nicht weltmeisterlich vollendet sei, wegen billigen Platzkarten und so, wird mir geraten ein bisschen Sightseeing zu unternehmen. Ich gehe mit, wie inkonsequent. War im Sommerurlaub ja auch schon beim Stierkampf. Am 31. Dezember 2004 will die "Walter Bau-AG" die Arbeiten am Berliner Olympiastadion, dem "Fünf-Sterne-Stadion", beendet haben. Wofür die Sterne, bitteschön? Von der S-Bahn direkt vors Süd-Tor kutschiert, steigt es empor, das olympische Rund vergangener Tage. Wir huschen vorbei, an steinernen Athleten samt Ross vorm Marathontor, Maifeld und Glockenturm. Wir entfliehen dem Flair von 1936 durch die antiken, tribünenstützenden Säulen und erreichen unsere Sitze - ein fast perfekter Zeitsprung von 60 Jahren. Dafür Stern Eins. Zweiter Stern: 20.2-17-10, mein Platz im Oberrang. Gemütlicher Plastiksessel unter der metallisch glänzenden Dachkonstruktion. Überdachte Sitzplätze, toll. Kein Riese, der einem die Sicht versperrt oder seine Hacken auf sensiblen Fußspitzen abstellt. Ein langer Stahlträger zieht sich durch das Blickfeld, das Dach will ja gehalten sein. Vom Tor auf dem Spielfeld sehe ich deshalb nur den rechten Pfosten. Wird eine Ecke getreten, verschwindet der Ball kurzzeitig; ich könnte ein Stück zu meinem Nachbarn rücken, doch der beginnt - ob meiner Grenzüberschreitung - bedrohlich zu grummeln. Aber der freie Blick auf die bunte Leinwand entschädigt - Glanzpunkt Nummer drei, der Unterhaltungswert. Das Hertha-Maskottchen, der Braunbär mit buntem Hut, parkt seinen Roller vor unserer Kurve, hält ein Schild hoch. "Ha-Ho-He" sollen wir rufen, "Hertha BSC". Ich habe die Lettern gerade entziffert, da dreht er den Pappkarton schon um, wirft uns ein trotziges "Ich kann euch nicht hören" entgegen und macht sich davon. Gegenüber versucht er sich erst gar nicht, dort herrscht öde Betontristesse. Noch im März wurden die Sandberge in der Tribüne, wo demnächst die Luxus-Lounge der VIPs entsteht, mit der Copacabana verglichen. Viertes Highlight: Leichtathletik, Konzerte und andere Shows sollen bald in der "Multifunktionsarena" stattfinden. Zur Halbzeit verhelfen Chearleaderinnen vor der Ostkurve den Hertha-Fans zu ungeahnter Lautstärke, zuvor hatten wir die Gefolgschaft nur über die Leinwand wahrgenommen. Den Status einer Luxusbehausung erhält ein Veranstaltungsort aber erst mit dem fünften Stern. Den verleihen wir dem Berliner Olympiastadion für hervorragende Maßnahmen gegen ohrenbetäubende Gesänge und Schlachtrufe. Die weiten Distanzen machen Lärmbelästigung unmöglich. Auch vor zähem und zerfahrenen Gekicke bieten Werbetafel und Animateure eine zuverlässige Schutzvorkehrung. Wer wegen des vielfältigen Unterhaltungsprogramms einen seltenen Torerfolg verpasst, kann sich entspannt zurücklehnen. Na klar: Die überdimensionale Leinwand zeigt die Tor-Wiederholung in Zeitlupe. Einen sechsten Stern, für Amüsement von absoluter Weltklasse, nein, den gibt es nicht. Den bekommt, für die sportliche Unterhaltung, die Stierkampfarena in Arles.

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