Stete Gratwanderung

Kolumbien Luis Eduardo Garzon, Vorsitzender des größten kolumbianischen Gewerkschaftsbundes CUT, über das Überleben im Land der Kriege und Leibwächter

Während die Regierung von Präsident Pastrana zur Guerilla der FARC und des ELN (*) ihre Friedensfühler ausgestreckt hat und seit einem Jahr holprige Annäherungsgespräche geführt werden, gibt es für den Dachverband der kolumbianischen Gewerkschaften CUT (Central Unitaria de Trabajadores de Colombia) keinerlei Entspannung. Angesichts der anhaltenden Attentate gegen seine Mitglieder spricht der CUT weiterhin von einer "humanitären Katastrophe". Erfasst wurden von Januar bis Juni 48 Opfer von Mordanschlägen rechtsextremer Paramilitärs. Der CUT-Vorsitzende Luis Eduardo Garzon fordert daher von der laufenden Vollversammlung der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) dringend die Entsendung einer Untersuchungsmission. Für Garzon, der selbst als einer der am meisten gefährdeten Politiker des Landes gilt, ist das "die einzige Möglichkeit", das Leben von Gewerkschaftern zu retten.


FREITAG: Welche Spielräume bleiben Ihnen für gewerkschaftliche Arbeit, wenn das größte Problem für die Existenz der CUT die Gewalt gegen ihre Mitglieder ist?

LUIS EDUARDO GARZON: Natürlich haben wir, wie alle anderen Staaten der Dritten oder Vierten Welt auch, mit der Liberalisierung und Strukturanpassung zu tun. Doch was Kolumbien unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier verschiedene Kriege zur gleichen Zeit geführt werden. Wir haben die Einmischung der USA - es gibt die Dimension des Drogenhandels, den Kampf um geopolitische Dominanz in der Andenregion und damit über den Panamakanal. Wir kennen aus sozialen Motiven gespeiste Aufstände und die traditionelle Intoleranz in unserem Land. Opfer hiervon sind nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch politische Parteien.

Verstehen Sie sich mehr als Partei?

Die CUT versteht sich als autonome Kraft, anders beispielsweise als die Gewerkschaften in El Salvador. Wir sind unabhängig von der Guerilla, nicht deren Anhängsel, was die Situation manchmal noch mehr komplizieren kann.

Was betrachten Sie als größten Erfolg der CUT in den vergangenen Jahren?

Dass wir überhaupt noch existieren und aktionsfähig sind. Wir leisten Widerstand gegen das weltweit dominante Modell des Neoliberalismus, wir sind wichtiger Bezugspunkt der öffentlichen Meinung, wenn es um Themen wie die laufenden Friedensgespräche mit der Guerilla oder die Gesundheitspolitik geht. In anderen Staaten der Andenregion sind Gewerkschaften fast verschwunden.

Auch in Kolumbien haben Sie an Einfluss und Mitgliedern verloren ...

Natürlich, angesichts der Massenarbeitslosigkeit, die mindestens die Hälfte der Bevölkerung betrifft, sind die Spielräume gering.

Manchmal scheint es auch interne Hemmnisse zu geben. Nehmen wir den Blumenanbau mit etwa 60.000 Arbeitsplätzen vor den Toren Bogotás. Hier herrscht weniger Terror als etwa in der Erdöl- oder Bananenindustrie, wo es trotzdem Gewerkschaften gibt. Aber auf den Plantagen ist von der CUT nichts zu spüren. Warum?

Ganz so würde ich das nicht sehen. Aber natürlich ist das auch ein Resultat traditionell linker Gewerkschaftspolitik, auch unserer eigenen. Das Avantgarde-Denken räumt der spezifischen Lage etwa von Arbeiterinnen auf den Blumen-Plantagen keinen besonderen Stellenwert ein. Es ging nur darum, auf den Staat Druck auszuüben. Heute zahlen wir den Preis dieser falschen Politik.

Welche Prioritäten setzen Sie für 2002?

Konkret muss in Kolumbien etwas gegen die hohe Arbeitslosigkeit geschehen. Außerdem sollte der Mindestlohn erhöht werden, der kein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Von allen formal Beschäftigten erhalten 62 Prozent nur den Mindestlohn, eine Familie brauchte aber zweieinhalb Mindestlöhne, um einigermaßen existieren zu können. Drittens dürfen das Gesundheits- und Bildungswesen keinesfalls privatisiert werden. Und dann ist da die Frage der Straflosigkeit. Es ist nicht damit getan, uns ab und zu einen Leibwächter zur Verfügung zu stellen. Die Gewerkschaftsbewegung hat in den vergangenen 15 Jahren mehr als 3.000 Tote zu beklagen - nicht ein Täter wurde bestraft.

Sie selbst werden als Sprecher des linksdemokratischen Bündnisses "Frente Social y Politico" auch als künftiger Präsidentschaftskandidat gehandelt.

Da ist noch nichts entschieden.

Wird grundsätzlich über eine alternative Kandidatur nachgedacht?

Ja, weil es bei Wahlen in Kolumbien nie eine linke Alternative gibt. Wir können immer nur für das kleinere Übel aus dem bürgerlichen Lager votieren - nie für etwas Besseres. Da bleibt als einzige Option für viele Linke die Guerilla.

Und was machen diejenigen, die das vermeiden wollen?

Ob deren Option mit dem Namen Garzon verbunden wird, ist belanglos. Ich bin ein Referenzpunkt in der kolumbianische Gewerkschaftsbewegung. Bei Wahlen müsste ich nicht die Nummer 1 sein. Vielleicht die Nummer 10, wogegen nichts einzuwenden wäre, solange die 10 nichts als Kofferträger für die Nummer 9 definiert wird.

Das Gespräch führte Frank Braßel

(*) FARC/Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia - ELN Ejército de Liberación Nacional.

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